Burgenkunde in Wundertüten

24.05.2023 von Matthias Münch in Wissenschaft
Das Archiv des Burgenforschers Hermann Wäscher im Institut für Kunstgeschichte und Archäologien Europas umfasst mehrere Tausend Dokumente, darunter originale Zeichnungen, Fotografien und Texte. Sie werden nun digitalisiert und der weiteren Forschung zugänglich gemacht.
Antje Seeger scannt im Universitätsarchiv eine Rekonstruktionszeichnung von Hermann Wäscher.
Antje Seeger scannt im Universitätsarchiv eine Rekonstruktionszeichnung von Hermann Wäscher. (Foto: Maike Glöckner)

Vorsichtig legt Antje Seeger ein gelbgraues Blatt Papier auf den Großformatscanner des Universitätsarchivs. Ein Knopfdruck, zwanzig Sekunden später ist das 40 mal 60 Zentimeter große Bild digitalisiert. Die Rekonstruktionszeichnung aus dem Jahre 1954 zeigt die nur noch als Ruine erhaltene Burg Lauenburg im Harz in zwei verschiedenen Ansichten, im unteren Teil ist auch der Maßstab eingezeichnet. „Wir können davon ausgehen, dass es sich um ein Original Hermann Wäschers handelt“, erklärt die Leiterin des Bildarchivs des Instituts für Kunstgeschichte und Archäologien Europas der MLU. „Es ist zwar nicht signiert, aber es trägt seine typische Handschrift.“

Wäscher: Architekt, Grafiker und Burgenforscher

Vor einem Jahr hat Antje Seeger das ehrgeizige Projekt gestartet, den Nachlass des Burgenforschers Hermann Wäscher vollständig zu digitalisieren und datenbankgestützt zu veröffentlichen. Eine erste Erfassung der großformatigen Originalzeichnungen erfolgte bereits 2019 im Rahmen einer Masterarbeit. Wäscher, 1887 in Offenbach am Main geboren, gelernter Steinmetz und studierter Architekt, leitete von 1954 bis zu seinem Tod im Jahre 1961 den Forschungsschwerpunkt „Mittelalterliche Burgen in Mitteldeutschland“ am Kunstgeschichtlichen Institut der halleschen Universität. Zuvor war er Leiter der Abteilung „Burgen und Schlösser“ in den Saalecker Werkstätten GmbH, anschließend Architekt für Denkmalpflege beim Provinzialkonservator der Provinz Sachsen Hermann Giesau und schließlich Leiter der Graphischen Sammlung der Staatlichen Galerie Moritzburg, bevor er an die Universität wechselte. „Mit seiner Leidenschaft für Bauarchäologie, Architektur und Denkmalpflege und seinem grafischen Talent hat Hermann Wäscher die Burgenforschung in Halle nachhaltig geprägt“, sagt Seeger.

Ziel des 1954 an der Universität eingerichteten Forschungsschwerpunkts war es, die Burgen Mitteldeutschlands zu erfassen und zu beschreiben – nicht nur die noch erhaltenen, sondern auch jene, deren einstige Existenz sich zumindest nachweisen ließ. Zusammen mit seinen Studierenden vermaß Wäscher Mauern, Türme, Torbögen, Türstöcke, Fensterstürze, Brunnen und Freiflächen, er skizzierte die topografische Lage der Bauwerke und nahm an Ausgrabungen teil. In hunderten Zeichnungen hielt Wäscher nicht nur den Status quo fest, sondern unternahm auch den Versuch, den früheren Zustand der Anlagen zu rekonstruieren. Dabei verfolgte er keinen ausschließlich akademischen Anspruch – nicht alle seiner Zeichnungen und Grafiken genügen strengen wissenschaftlichen Kriterien, sagt Seeger: „Die Burg Querfurt hat er in zahlreichen großformatigen, zum Teil farbigen Zeichnungen abgebildet, der Burg Seeburg hat er sogar einen Grafikband gewidmet. Schaut man ins Detail, ist schon ein wenig Fantasie enthalten. Wäscher war eben nicht nur Wissenschaftler, sondern auch Künstler.“ Und offenbar jemand, der den Menschen im Land zeigen wollte, welche einstigen Schätze sich in ihrer Nähe verbargen. „Hermann Wäscher hat seine Forschungsergebnisse und Zeichnungen in einer Reihe kleiner Hefte veröffentlicht, die auch in den lokalen Einkaufsläden der betreffenden Gemeinden erhältlich waren“, erzählt Seeger. „Seine Intention war die Anschaulichkeit – er wollte auch dem fachfremden Publikum eine Vorstellung davon geben, wie eine Burg zu ihrer Erbauung oder später ausgesehen haben könnte.“

Archiv zeigt auch Blick in den Forschungsalltag

30 Ordner und Mappen hat Hermann Wäscher in seinem Archiv hinterlassen – neben den Architekturzeichnungen auch gefüllt mit Erfassungsbögen und Karteikarten zu rund 500 Burgen Mitteldeutschlands, fotografischen Originalaufnahmen, Skizzen, Aufmaßen und Befunden, Kopien von Flurplänen, Notizen, Exzerpten, fragmentarischen Textentwürfen, Manuskripten und Typoskripten, Reprografien und Lichtpausen, Akten und Briefen, grauer Literatur sowie Fremdmaterial. Etwa 10.000 Bild- und Textdokumente enthält der Nachlass insgesamt, darunter knapp 600 bisher identifizierte Zeichnungen, die Wäscher selbst angefertigt hat. „Leider ist die Sammlung nicht inventarisiert und zumeist unsortiert“, sagt Antje Seeger. „Beispielsweise sind unzählige kleinere Objekte in 300 DIN-A4-Umschlägen zu Konvoluten zusammengefasst – diese Umschläge sind mitunter wahre Wundertüten.“

Damit sie es nicht bleiben, wird das gesamte Material digitalisiert. Das Scannen geht noch recht schnell von der Hand – für die knapp 800 Großformate hat Seeger im Universitätsarchiv gut eine Woche gebraucht. „Jetzt geht es auf einem kleineren Gerät im Institut weiter“, sagt sie. Damit allein ist es allerdings nicht getan, denn der Wäscher-Nachlass soll nicht nur digital archiviert, sondern in einer Datenbank zugänglich und nutzbar gemacht werden. Konkret bedeutet das, die einzelnen Objekte zu identifizieren und zu kontextualisieren. Welche Burg wird dargestellt oder beschrieben? In welchem Jahr entstand das Dokument? Wer ist der Urheber? Handelt es sich um eine Fotografie, eine Skizze, eine Präsentationszeichnung? Ist es ein Original oder eine Kopie, und welcher Kategorie ordnet man Kopien zu, die händische Einzeichnungen enthalten?

Die Objekte zu kategorisieren und ein Schema für die strukturierte Erfassung zu entwerfen, um die Informationen in Form von Metadaten maschinenlesbar zu machen, wird die größte Herausforderung sein. Seeger will dabei auf gängige Standards und Normdaten zurückgreifen, damit die Daten möglichst interoperabel sind. „Es wird Jahre dauern, bis wir das gesamte Material erschlossen und verschlagwortet haben“, schätzt sie. Eine Plattform für die Erfassung und Veröffentlichung wird es indes bald geben: Die Zentrale Kustodie realisiert derzeit mit Fördermitteln aus dem „Kulturinvestitionsprogramm Digitalisierung REACT-EU“ den Aufbau eines digitalen Sammlungsportals.

Das Wäscher-Archiv ist jedoch nicht nur eine Fundgrube für die Burgenkunde selbst. Durch die zahlreichen Skizzen, Notizen, Exzerpte und Korrekturen werde neben der praktischen auch die geistige Arbeit greifbar, sagt Antje Seeger – das Suchen, Sammeln und Systematisieren, das Entwerfen und Verwerfen, das Analysieren und Interpretieren. Dieser Blick in den kunsthistorischen Forschungsalltag mache die Sammlung auch jenseits der Burgenforschung interessant.

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