Mit Kindern reden

24.03.2020 von Katrin Löwe in Wissenschaft, Wissenstransfer
Sprechwissenschaftlerinnen der Universität kooperieren seit vielen Jahren mit Kitas in Halle, um Sprachentwicklung zu analysieren und die Kommunikation im Alltag zu fördern. Es geht dabei um Forschung, Lehre und Wissenstransfer zugleich – ein Gewinn für alle Beteiligten.
Ines Bose (links) und Stephanie Kurtenbach bei der Auswertung eines Mitschnitts aus der Kita.
Ines Bose (links) und Stephanie Kurtenbach bei der Auswertung eines Mitschnitts aus der Kita. (Foto: Michael Deutsch)

In welchen Situationen argumentieren Kindergartenkinder? Weniger, wenn es einen Konflikt gibt und die Frage nach einem Sieger im Raum steht. Dann, sagt Sprechwissenschaftlerin Prof. Dr. Ines Bose, wird doch eher an den Haaren gezogen, fährt sich sprachliche Auseinandersetzung ziemlich schnell in einem Dialog wie „Ja! – „Nein!“ - „Doch!“ – „Nein!“ fest. Kinder, so die Expertin, argumentieren vor allem, wenn sie in kooperativer Atmosphäre, im Konsens gemeinsam nach einer Lösung für ein Problem suchen. Das ist eine der Erkenntnisse, die Sprechwissenschaftlerinnen der MLU und der Universität Marburg aus einem Projekt in der Kita „Am Moritzburgring“ in Halle mitnehmen konnten.

Zehn Monate lang haben sie in der Einrichtung einen Gesprächskreis begleitet, in dem die ältesten der Kitakinder, die Vorschulkinder, unter dem Titel „Stolpersteine und Wunschsterne“ Probleme oder Wünsche anbringen konnten, die dann in der Gruppe diskutiert wurden. Um verknotete Spieltücher ging es dabei ebenso wie um Schubsereien oder den heiß ersehnten nächsten Zoobesuch. Entstanden sind – mit Erlaubnis der Eltern und unter Einhaltung des Datenschutzes – knapp viereinhalb Stunden Videomitschnitt, die qualitativ, aber auch quantitativ wissenschaftlich ausgewertet werden konnten. So wurden etwa Zahl und Art der Themen erfasst, wiederkehrende Gesprächspraktiken von Kindern und pädagogischen Fachkräften oder eben Argumentationsleistungen und wie diese gefördert werden können. „Die Argumentationsentwicklung bei Kindern in diesem Alter ist allgemein noch sehr unerforscht“, sagt Dr. Stephanie Kurtenbach, die mit Ines Bose an dem Projekt arbeitet.  

Die Forschung ist für die Wissenschaftlerinnen freilich kein Selbstzweck. Ziel ist, die Erkenntnisse in die Praxis – also die Qualifizierung von Erzieherinnen und Erziehern – zu übertragen. Wissenstransfer ist für Bose und Kurtenbach ohnehin ein großes Thema, wie sich auch an einem Langzeitprojekt zeigt. Seit zehn Jahren gibt es eine Kooperation mit dem Eigenbetrieb Kindertagesstätten der Stadt Halle, in der es um die Förderung von Alltags-Kommunikation zwischen pädagogischen Fachkräften und Kindern geht. Jährlich werden seit 2010 unter dem Titel „Kinderleicht sprechen“ Weiterbildungen für Kitas verschiedener Träger angeboten und wissenschaftlich evaluiert.

Thematisch hat es dabei bislang verschiedene Ausrichtungen gegeben. So ging es anfangs insbesondere um frühe Kommunikation. Dazu zählen bereits Gesten und Blickkontakte, also nichtsprachliche Elemente, auf denen Sprache später aufbaut. „Pädagogische Fachkräfte wurden sensibilisiert, Kommunikationsimpulse der Kinder zu erkennen und sie aufzugreifen“, sagt Stephanie Kurtenbach, die das Weiterbildungsprojekt mit Franziska Kreutzer vom Eigenbetrieb koordiniert. Für viele Pädagogen fange Sprachförderung erst an, wenn die Kinder das erste Wort sprechen. „Aber das ist nicht so.“

Seit drei Jahren ist nun Mehrsprachigkeit das Schwerpunktthema. Im Kita-Alltag ist sie längst angekommen – und dort eine Herausforderung für Erzieherinnen und Erzieher. Wie kann die Mehrsprachigkeit für alle Kinder lebendig gestaltet werden, also auch für einsprachig aufwachsende? Wie können Fachkräfte Kinder mit anderen „Familiensprachen“ am besten unterstützen? Wie sollten sie reagieren, wenn Kinder, was völlig normal ist, quer durch verschiedene Sprachen switchen? Und letztlich: Welche Rolle muss in dem Prozess die Muttersprache spielen?

In der fünfmonatigen Weiterbildung mit vier Schulungs- und drei Praxistagen bilden pädagogische Fachkräfte Tandems mit Master-Studierenden der Sprechwissenschaft. Eine Besonderheit ist dabei die Videodokumentation der Praxisaufgaben. Dass Kita-Fachkräfte videobasiert das eigene kommunikative Handeln reflektieren, sei eigentlich in Bildungsplänen der Bundesländer als Qualitätsstandard enthalten, sagt Kurtenbach, passiere aber aus verschiedenen Gründen nicht. Im Projekt der Sprechwissenschaft ist die anschließende Selbstanalyse – zunächst im geschützten Rahmen der Tandems – indes wichtiger Bestandteil. Manch Aha-Erlebnis inklusive: „Ich war doch zu schnell, habe das Kind nicht ausreden lassen“ ist ein Beispiel. Gesprächsprozesse ließen sich nur im Studium authentischer Kommunikation analysieren, nicht allein durch Erinnerungen oder gestellte Situationen. „Das sind Erkenntnisse, die wir aus der Forschung haben“, so Bose.

Videos von mittlerweile 53 Tandems der halleschen Weiterbildungs-Kooperation stehen auch für eine wissenschaftliche Auswertung zur Verfügung – unter anderem geschieht diese in Abschlussarbeiten. In den vergangenen Jahren sind zur Kitaforschung bereits rund 30 Masterarbeiten entstanden, mehrere Dissertationen sind in Arbeit, sagt Professorin Bose. Entwickelt und evaluiert wurden zudem Beobachtungsbögen für die Themenbereiche „frühe Kommunikationsförderung“ und „Mehrsprachigkeit“, die in den Kitas genutzt werden – auch, um Handlungsideen zu entwickeln. Insgesamt spricht Bose von einer „Trias von Forschung, Studierendenausbildung und Fortbildung der Kita-Fachkräfte“. Dabei geht es, betonen die Wissenschaftlerinnen, immer um Kooperation auf Augenhöhe, bei der die Forschung von der Alltagsexpertise der Fachkräfte und umgekehrt die Kitas vom Forscherblick profitieren.
Dass Interesse aus der Praxis ist enorm. Das hat sich zuletzt auch auf einer Tagung im Rahmen der „Kleine Fächer-Wochen Sprechwissenschaft“ gezeigt. „Kinder im Gespräch – mit Kindern im Gespräch“ lautete deren Titel. Mit 80 Gästen im öffentlichen Teil, insbesondere aus dem Bereich Sprachförderung, hatte selbst Ines Bose nicht gerechnet.

Prof. Dr. Ines Bose
Institut für Musik, Medien- und Sprechwissenschaften
Tel. +49 345 55-24465
Mail: ines.bose@sprechwiss.uni-halle.de

Dr. Stephanie Kurtenbach
Institut für Musik, Medien- und Sprechwissenschaften
Tel. +49 345 55-24470
Mail: stephanie.kurtenbach@sprech-wiss.uni-halle.de

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