Auf der Erfolgswelle
Als Bachelor-Student sei die Tragweite kaum zu begreifen gewesen. „Es ist immer noch nicht wirklich zu fassen“, sagt Dr. Alexander Gabel, wenn er an die Zeit vor rund zehn Jahren denkt. Am 4. Oktober 2012 kam das Fachmagazin „Nature“ mit einem besonderen Cover heraus: Es zeigt eine Sanduhr – und steht für Erkenntnisse, die weitgehend auf den Bachelorarbeiten von ihm und Hajk-Georg Drost zum so genannten Sanduhr-Modell bei der Embryogenese von Pflanzen basierten. Bis dahin war das Modell ausschließlich bei Tieren nachgewiesen. Sie durchlaufen in ihrer Entwicklung von der befruchteten Eizelle bis zur Geburt ein Embryonalstadium, in dem sie rein äußerlich kaum voneinander abweichen, obwohl sie sich zuvor und auch danach morphologisch deutlich voneinander unterscheiden. Diese Phase versinnbildlicht das Sanduhr-Modell mit der Engstelle. Das Gleiche gilt auch für ihre Genaktivität. Die halleschen Bioinformatiker hatten in ihrer Arbeit nun demonstriert, dass es das Muster auch bei Pflanzen gibt. Das brachte ihnen nicht nur die Titelgeschichte in „Nature“ ein, sondern im Jahr darauf auch einen mit 30.000 Euro dotierten Forschungspreis der Stickstoffwerke Piesteritz.
Zehn Jahre später hat Gabel nicht nur seinen Masterabschluss, sondern auch den Doktortitel in der Tasche – und seit Freitag die Luther-Urkunde der MLU für seinen Abschluss mit der Bestnote „summa cum laude“. „Wir sind auf der Welle mitgeritten, die sich aus der Publikation ergeben hat“, sagt er rückblickend. Der 33-Jährige meint damit nicht nur weitere Forschungen, sondern auch den Kontakt zu zahlreichen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, zu anderen Disziplinen. Und dank des Preises die Möglichkeit, 2015 für ein Forschungsprojekt gemeinsam mit Drost nach Cambridge (England) zu gehen und dort mit Prof. Dr. Elliot Meyerowitz einen der Pioniere der Entwicklungsbiologie zu treffen. „Daraus ergaben sich auch weitere Projekte“, sagt er. Und immer wieder neue Aufenthalte in Cambridge und sogar gemeinsame Publikationen.
Ein Schwerpunkt in Gabels Dissertation waren so genannte lange nicht-kodierende RNA-Moleküle. Diese enthalten keine Bauanleitungen für Proteine, sondern beeinflussen die Aktivität von Genen. Im vergangenen Jahrzehnt konnten im Zuge von RNA-Sequenzierungstechniken besonders im Menschen und in Tieren eine Vielzahl dieser RNAs identifiziert werden, „in Pflanzen waren sie noch nicht so gut erforscht“, sagt der Wissenschaftler. Um ihre funktionale Bedeutung zu untersuchen, hat Gabel zusammen mit Dr. Christoph Schuster vom Sainsbury Laboratory in Cambridge die RNAs von Organen von sieben verschiedenen Blütenpflanzen analysiert, die einen gewissen evolutionären Abstand aufweisen - angefangen von evolutionär sehr nah verwandten Pflanzen wie Arabidopsis thaliana (Gänserauke) und Arabidopsis lyrata (Felsen-Schaumkresse) bis hin zu evolutionär sehr weit entfernten Gräsern wie Brachypodium distachyon (Zwenke). Deren Organe wurden sequenziert und mit bioinformatischen Methoden analysiert. Aus den enormen Datenmengen, so Gabel, lasse sich ablesen, wie stark ein Gen in einem bestimmten Organ aktiv ist. Zudem konnten mehrere tausend RNA-Moleküle rekonstruiert werden, die bis dahin noch nicht bekannt waren. Angesichts von Klimawandel und Fragen der weltweiten Ernährungssicherheit können Erkenntnisse zu den RNA von Bedeutung sein, wenn es darum geht, zum Beispiel das Blühverhalten von Pflanzen, die Größe ihrer Früchte oder das Verhalten bei Trockenstress zu untersuchen. „Wir bilden mit unseren Analysen die Grundlage für weiterreichende Studien“, so Gabel.
Halle sei für ihn als Student und Doktorand eine hervorragende Universitätsstadt gewesen, sagt Gabel. Das Umfeld und die Zusammenarbeit am Institut für Informatik haben ihn sogar davon abgehalten, ein Angebot zum gänzlichen Wechsel nach Cambridge anzunehmen. Erst nach seiner Promotion hat der Bioinformatiker Halle nun doch verlassen. Aus privaten Gründen und um seinen wissenschaftlichen Horizont zu erweitern ist er nach Würzburg gegangen. Schon vor und während seiner Promotionszeit hat der gebürtige Schönebecker nicht nur Pflanzengenome erforscht, sondern war auch an Projekten in der Medizin, der Pharmazie und den Ernährungswissenschaften beteiligt.
In Würzburg war er bereits in ein Projekt involviert, das den Einfluss der Corona-Lockdowns auf herzkranke Menschen untersucht. Ab Juni wird er als Post-Doc am Helmholtz-Institut für RNA-basierte Infektionsforschung forschen, wieder an nicht-kodierenden RNA. „Ihr Agieren bei einer Infektion zu modellieren, ist für mich eine spannende Herausforderung.“ Ein Grund dafür: Es gibt eine Vielzahl von neuen Technologien, die bei der Erforschung von langen nicht-kodierenden RNAs Informationen über die Interaktionen der RNAs untereinander und deren Einfluss auf andere Molekülgruppen auf der Ebene von einzelnen Zellen wiedergeben können.
Eines Tages nach Halle zurückzukehren ist für Gabel dennoch keineswegs ausgeschlossen.
Festveranstaltung, Empfang und Großes Frühjahrskonzert
Seit dem Sommersemester 2019 wurden 775 Promotionen und 25 Habilitationen an der MLU abgeschlossen. „Das ist ein beeindruckender Ausweis unserer Leistungsfähigkeit als Martin-Luther-Universität“, sagte Rektor Prof. Dr. Christian Tietje am Freitag auf der Festveranstaltung. „Wir freuen uns außerordentlich, dass wir wieder eine feierliche Urkundenübergabe in unserer wunderschönen Aula vollziehen können“, so Tietje - wegen Corona war das zwei Jahre lang nicht möglich. Die Festrede hielt mit der Psychologin Dr. Annegret Wolf eine Wissenschaftlerin, die selbst zu den Albsolventinnen und damit den Geehrten des Abends gehörte. „Wir haben es geschafft!“, sagte sie zum Auftakt ihres Vortrages unter dem Titel "Fight or Flight - Die Macht der Emotionen in unserem Alltag". Die Festveranstaltung, so Wolf, bilde für die Absolventinnen und Absolventen den offiziellen Abschluss einer hochemotionalen Zeit. Wolfs Vortrag war laut Rektor Tietje auch ein Beitrag der Universität zum Themenjahr der Stadt Halle, das sich aktuell mit der Macht der Emotionen befasst.
Verliehen wurden auf der Festveranstaltung nicht nur die Lutherurkunden für Promovenden, die mit der Bestnote „summa cum laude“ abgeschlossen haben, sondern auch die diesjährigen Universitätspreise. Den mit 1.500 Euro dotierten Christian-Wolff-Preis erhielt PD Dr. Constanze Pinske (Naturwissenschaftliche Fakultät I) für ihre Habilitation "Bioenergetik des Wasserstoff-Stoffwechsels". Die Dorothea-Erxleben-Preise für die besten Dissertationen (jeweils dotiert mit 1.000 Euro) gingen an Phries Sophie Künstler (Philosophische Fakultät III) für die Arbeit "Prekäre Subjektivierung - zum Verhältnis von Anrufung, Anerkennung und Verwehrung im Kontext 'prekärer Mutterschaft'" sowie Martha Schulz (Naturwissenschaftliche Fakultät II) für ihre Arbeit "Einfluss intrakristalliner Dynamik auf Morphologie und Schmelzverhalten teilkristalliner Polymere". Den Anton-Wilhelm-Amo-Preis erhielt Friederike Elisa Wührl (Naturwissenschaftliche Fakultät II) für ihre Masterarbeit "Strukturanalyse oxidischer Quasikristallapproximanten auf Palladium Pd (111)". Auch er ist mit 1.000 Euro dotiert.
Im Anschluss an die Festveranstaltung fanden in der Händel-Halle ein Empfang und das Große Frühjahrskonzert mit dem Akademischen Orchester, dem Universitätschor "Johann Friedrich Reichardt" und der Uni-Bigband statt.