Der Musiker mit Chemie-Studium
Die Frage, ob er nicht doch noch seine Doktorarbeit beenden sollte, ist bis heute ein Running Gag zwischen ihm und seinem einstigen Doktorvater Prof. Dr. Alfred Schellenberger. Bis Seite 70 ist Matthias Erben damals gekommen – allerdings in einem Fach, das mit seinem späteren Wirken als Leiter des Akademischen Orchesters herzlich wenig zu tun hatte: Erben hat von 1975 bis 1980 Chemie an der Uni Halle studiert, ehe er sich mit 30 Jahren entschloss, doch lieber Berufsmusiker zu werden. Seine Großmutter hat ihn einmal als „das interessanteste Hybrid in der Sippe“ bezeichnet. Als die beste Mischung zwischen dem wissenschaftlich-empirischen Teil der Familie, der eine bis heute existierende Essenzen-Firma in Raguhn (jetzt in Thalheim, beides Anhalt-Bitterfeld) aufgebaut hat, und dem musikalischen Part, zu dem unter anderen der derzeitige 1. Konzertmeister des Gewandhausorchesters Leipzig Frank-Michael Erben gehört.
Heute ist Matthias Erben 66 Jahre alt - und das Zitat seiner Oma fällt ihm nicht ohne Grund wieder ein. Rückblickend gehe sein Dank an die Uni in zwei Richtungen, sagt er. Zum einen für eine sehr gute naturwissenschaftliche Ausbildung und die Vermittlung von empirischem Denken, das ihm auch als Orchesterleiter half, zum anderen für die Möglichkeit, „mit wunderbaren Menschen so viel Musik zu spielen“. 37 Jahre lang hat Erben das Akademische Orchester der MLU geleitet – am 13. und 18. Juli finden in Halle und Quedlinburg noch zwei Konzerte mit ihm und dem Ensemble statt, am 25. September ein Auftritt bei der Classic Night in Bitterfeld. Seine Stelle an der Uni lief bereits zum 31. Mai aus.
Als Erben die Leitung des Orchesters 1984 übernommen hat, bestand es nur noch aus sechs Mitgliedern. Als neuer Leiter wurde er zwar verpflichtet, eine Anstellung gab es für den jungen Musiker damals an der Uni jedoch noch nicht. Der standen sein kirchliches und sein umweltpolitisches Engagement entgegen, sagt er. „Nichtsdestotrotz brauchte die Partei aber immer mal ein bisschen klassische Musik.“ Das Ensemble wuchs, zum Ende der DDR war es „schon gut unterwegs in Kammerorchesterbesetzung“, wie Erben sagt. Wenn man ihn heute nach seinen ganz persönlichen Highlights fragt, fällt ihm die Wahl schwer. Den Deutschen Orchester-Wettbewerb in Goslar im Jahr 1992 zählt er dann aber dazu: Das Uni-Orchester kam unter die besten Vier, „die Jury hat stehend applaudiert“, erinnert sich Erben. Und er selbst erhielt ein Dirigier-Stipendium, obwohl er eigentlich nie Dirigent werden, sondern als Streicher aktiv spielen wollte – seit seinem sechsten Lebensjahr spielt er Geige.
Es folgten viele weitere Höhepunkte in den vergangenen Jahrzehnten. Erben erzählt zum Beispiel von der mit dem Uni-Chor organisierten musikalischen Festwoche zum 300. Jahrestag der Gründung der halleschen Friedrichs-Universität. „Da habe ich noch persönlich ein zweites Klavier in die Aula getragen.“ Oder vom Stadionrock in Wernigerode, wo das Orchester mit einer Queen-Cover-Band spielte. Mit der ungarischen Rock-Band „Omega“ ist es auf Tournee durch Ungarn, Tschechien und Deutschland gegangen und hat mit ihr und den „Scorpions“ 2014 zum 25-jährigen Jubiläum der friedlichen Revolution auf dem Heldenplatz in Budapest gespielt. „Das war das größte Konzert meines Lebens“, sagt Erben – als Dirigent vor sage und schreibe 330.000 Menschen! Es gäbe noch einige Highlights aufzuzählen – doch wo anfangen? „Jede Probe ist ein Höhepunkt“, sagt Erben. „Man steht vor erwartungsfrohen Gesichtern, reißt die Arme hoch und dann geht die Post ab. Das ist wie ein Lebenselixier für mich!“
Das Akademische Orchester hat heute 70 Mitglieder, die das romantische Repertoire ab 1850 abdecken, immer wieder auch Uraufführungen spielen – und zahlreiche Partnerschaften pflegen. Eine davon verbindet es mit dem Universitätschor in Breslau. Mit Blick auf die Familiengeschichte – sein einstiger Schwiegervater hat 1945 die Schlacht um Breslau selbst erlebt – war für Erben besonders bewegend, zum 70. Jahrestag des Kriegsbeginns Haydns Schöpfung in der Stadt, genauer der Universitätskirche Breslau zu spielen.
Jetzt ist der Wahl-Hallenser und Wahl-Wittenberger froh, dass die Stelle des Leiters neu ausgeschrieben worden ist und auf großes Interesse stieß. Er selbst wird natürlich weiter Musik machen, mit seinem bereits 1981 gegründeten Kammerorchester „musica juventa“ ebenso wie mit dem Mitteldeutschen Salonorchester. Er wird mehr Zeit für seine beiden Enkelkinder in Berlin haben – und zum Reisen. „Ich möchte noch einige Ecken der Welt sehen und mit interessanten Leuten in persönlichen Kontakt kommen und bleiben. Als Musiker in die Welt fahren ist das Tollste!“ Armenien, Albanien, das Mittelmeer, Polen und das Riesengebirge: Die Liste ist lang. Und vielleicht, sagt Erben, gibt es auch die Gelegenheit, seine Patenkinder in Uganda und Äthiopien zu besuchen.
Auf seine Zeit an der Uni blickt er gern zurück. „Wo finden Sie schon die Möglichkeit, das zu machen, was Ihnen Spaß macht – mit Leuten, denen es Spaß macht? Und dafür auch noch Geld zu kriegen? Das ist ein Geschenk!“ Sein „Baby“ sei nun groß geworden, es ist fast so alt wie er – der Nachfolger oder die Nachfolgerin kann im kommenden Jahr das 65-jährige Bestehen des Akademischen Orchesters feiern.
Den aktuellen Konzertplan des Orchesters gibt es hier: http://ao-halle.blogspot.com/ - und weitere Infos hier: https://www.coll-music.uni-halle.de