Die bisher unentdeckte Sensation
Der Zufall fungiert in der Wissenschaft des Öfteren als wichtiger Helfer. Der MLU bescherte er vor etwa zwei Jahren die zunächst wie Routine klingende Anfrage eines italienischen Wissenschaftlers. Dieser, ein Experte auf dem Gebiet der Antikenrezeption, hatte während einer Online-Recherche im Bestand der Martin-Luther-Universität einen Titel entdeckt, der sein Interesse geweckt hatte. Per E-Mail fragte er an, was sich genau dahinter verbirgt. Die Anfrage wurde von der ULB weiter geleitet und landete bei Prof. Dr. Stefan Lehmann, seines Zeichens Leiter des Archäologischen Museums der MLU und ausgewiesener Experte für Antikenzeichnungen.
Lehmann begann zu recherchieren und konnte es anfangs selbst kaum glauben: Besagter Klebeband enthielt in der Tat spätbarocke Originalzeichnungen antiker Wandmalereien aus Rom. Sie stammen von dem italienischen Maler Camillo Paderni. Und sie sind die Originalvorlagen für Illustrationen eines 1740 in London erschienenen Buchs des schottischen Philosophen George Turnbull über die Geschichte der antiken Malerei. Dieses Buch wiederum nutze auch der Begründer der Klassischen Archäologie und Kunstgeschichte, Johann Joachim Winckelmann, als Quelle. Seine intensive Auseinandersetzung mit Turnbulls Werk ist durch eine Exzerpt dokumentiert, das sich heute im Besitz der französischen Nationalbibliothek befindet.
Aber der Reihe nach: Zunächst einmal versuchte Stefan Lehmann den Weg nachzuvollziehen, den der Klebeband mit den Originalzeichnungen im Lauf der Jahrzehnte genommen hatte. Anhand handschriftlicher Einträge ließ sich nachvollziehen, das Turnbull ihn einem britischen Adligen und Antikenfreund vererbt hatte. Später gelangte das Werk in den Besitz des einflussreichen britischen Politikers und Kunstsammlers Sir William A. Fraser und wurde nach dessen Tod wohl 1901 beim Auktionshaus Sotheby’s in London versteigert. „Es ist davon auszugehen, dass unser Antikenalbum danach wieder in private Hände gelangte“, so Lehmann. Wohin genau, ist bislang nicht klar. Denn danach verliert sich zunächst seine Spur.
„Ich gehe davon aus, dass der Band nach 1920 vom damals in Halle lehrenden Archäologen Georg Karo angeschafft worden ist“, so Lehmann weiter. Ein Glücksfall, „denn dabei handelt es sich um ein wichtiges künstlerisches Zeugnis zur Erforschung des Frühklassizismus“, so Lehmann. Die Zeichnungen Padernis markieren nicht weniger als den Anfang der Entdeckung und wissenschaftlichen Erschließung der antiken Wandmalerei zunächst in Rom und ab etwa 1738 in Herculaneum, jener Stadt am Golf von Neapel, die einst beim Ausbruch des Vesuvs unterging.
Die Zeichnungen belegen zudem vieles, was bis dato nicht oder kaum bekannt war. Zum Beispiel, dass sich Altertumskenner bereits vor Beginn der Ausgrabungen von Herculaneum intensiv mit antiken Wandmalereien beschäftigt haben. Diese Erkenntnis, so Lehmann, ordne auch die Forschungsarbeiten von Johann Joachim Winckelmann neu ein. Er sei zweifelsfrei eine enorm wichtige Figur der Aufklärung, „aber der Durchbruch des Klassizismus in der zeitgenössischen Kunst lag vor seinen epochalen Werken zur antiken Kunst“, sagt Lehmann. Winckelmann, so legen die Zeichnungen des wiederentdeckten Klebebands nahe, sei ein Gelehrter gewesen, der zur Geschichte der antiken Malerei auf Vorarbeiten zurückgreifen konnte. Lehmanns Fazit: „Die Entstehung des Klassizismus wird mehreren Vätern verdankt“.
Zwischen Winckelmann und dem römischen Maler Paderni, der in Herculaneum Zeichnungen der Grabungsfunden anfertigte und später Museumsleiter wurde, gab es seit den 1760er Jahren enge wissenschaftliche Kontakte. So reiste Winckelmann insgesamt vier Mal nach Herculaneum, das ab 1738 ausgegraben wurde, um die Funde zu studieren.
Kurz gesagt: Padernis Handzeichnungen sind nicht nur Kunstwerke. Sie bilden als Dokumentationen eine wertvolle Grundlage für weitere archäologische und kunsthistorische Diskussionen, wofür es an der Universität in Halle eine große Kompetenz gebe, so Lehmann. Denn auch der Archäologe Prof. Dr. Gunnar Brands und der Kunsthistoriker Prof. Dr. Michael Wiemers sind auf dem Feld der Antikenzeichnungen aus Renaissance und Barock ausgewiesene Experten.
Zunächst gelte es aber, den spektakulären Fund in Öffentlichkeit und Wissenschaft bekannt zu machen, wofür die Ausstellung im Universitätsmuseum Gelegenheit bietet. Im Anschluss ist ein Workshop geplant, zu dem Ende Januar 2018 internationale Spezialisten nach Halle kommen werden. Darüber hinaus soll ein wissenschaftlicher Katalog entstehen. Lehmann ergänzt: „Wir hoffen, dass sich daraus Ansätze für weitere Forschungen und Diskussionen ergeben werden.“
Ausstellung "Die Entdeckung der antiken Malerei im 18. Jahrhundert"
Löwengebäude, Sonderausstellungsraum
Universitätsplatz 11, 06108 Halle
8. Dezember 2017 bis 28. Januar 2018
Jeweils Dienstag bis Freitag von 11 bis 13 Uhr und 14 bis 18 Uhr
Sonntag von 14 bis 18 Uhr
an Feiertagen geschlossen, Eintritt frei
Kategorien
VariaWeitere Artikel zum Thema
Johann Joachim Winckelmann - "Urvater" der Archäologie
An der halleschen Uni hat das Wintersemester begonnen und wie seit Jahrhunderten tummeln sich mit den „alten Hasen“ die Neuen. So ein Greenhorn war vor exakt 275 Jahren der später weithin bekannte und berühmte Altertumsforscher Johann Joachim Winckelmann. Details aus der „Causa Winckelmann“ hat Klaus-Werner Haupt in seinem Buch "Die zwei Federn des Johann Winckelmann" zusammengetragen und zu einem leicht lesbaren, kurzweiligen Lebensbild vereint. Artikel lesen
Ausstellung zeigt Winckelmanns Leben und Wirken
Die erste große Ausstellung zu Johann Joachim Winckelmann eröffnet morgen, 7. April, im Neuen Museum Weimar: Im Jahr seines 300. Geburtstags werden das Leben und Werk des einflussreichen Kunstkritikers und Schriftstellers anhand von hochkarätigen Exponaten erstmals umfänglich präsentiert. Die Humboldt-Professorin Elisabeth Décultot von der Uni Halle hat „Winckelmann. Moderne Antike“ gemeinsam mit der Klassik Stiftung Weimar konzeptioniert und kuratiert. Artikel lesen