Die Flugschrift aus den USA
Das Werk aus der Reformationszeit umfasst nur 16 Seiten, der Titel ist zeitgemäß und klingt heute etwas sperrig: „Einrit Keyser Carlen || in die alten Keyserlichen haubtstatt || Rom/ den 5 Aprilis. 1536“. Die erste Seite jedoch ist mit einem schönen Holzschnitt verziert, der den habsburgischen Kaiser Karl V. zu Pferde zeigt. Die Geschichte des Heftchens ist schnell erzählt: Karl ist 1536 Kaiser des Heiligen Römischen Reiches und er will in Rom den Papst treffen. Da er gerade in Tunis die Osmanen besiegt hat, gerät der Ritt durch Rom zum Triumphzug. Das ist in der kleinen Flugschrift, die Aktuelles bezahlbar verbreiten soll, anschaulich beschrieben.
Verfasst wurde das Ganze vom Nürnberger Gelehrten Christoph Scheurl. Die kleine Schrift Scheurls, der 1507 übrigens auch Rektor der Universität Wittenberg war, fand ihren Weg in die Bibliotheca Ponickaviana, die Bücher-Sammlung des Geheimen Kriegsrats Johann August von Ponickau (1718-1802), der diese der Universität Wittenberg vermachte. Und dann? Die Universitäten Wittenberg und Halle wurden 1817 vereinigt, die Sammlung Ponickaus kam nach Halle und ist bis heute eine der bedeutenden Sondersammlungen der Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt (ULB).
Die Bibliotheca Ponickaviana, das sind 16.000 Bände, 30.000 Kleinschriften plus Handschriften, Kupferstiche und Landkarten. Dass da etwas fehlte? Bis zum 26. Dezember 2022 und einer weihnachtlichen E-Mail aus Thüringen wusste das auch Dr. Julia Knödler, Leiterin der Historischen Sammlungen der ULB, nicht. „Ein Kollege aus Gotha hat Antiquariatskataloge studiert und ihm fiel auf, dass eines der Angebote einen Stempel trug, auf dem eben ganz deutlich zu lesen war: ‚Bibliotheca Ponickaviana‘:“ Was man in Pennsylvania, USA, wo der Antiquar sein Geschäft betreibt, lediglich für eine Adelsprovenienz hielt, jedoch nicht für einen Bibliotheksstempel. Für 3.000 Dollar war die Schrift dort im Angebot. Eine E-Mail an den Händler jedoch reichte aus, den Irrtum aufzuklären. „Anstandslos und schnell wurde das Heft an uns geschickt“, sagt Julia Knödler. Natürlich ohne eine Rechnung auszustellen.
Wie Scheurls Schrift aus der ULB verschwand und in die USA gelangte? „Das wissen wir nicht“, sagt Knödler. Aufklären lässt sich das wohl auch nicht mehr. In einem alten Zettelkatalog ist das Werk verzeichnet – aber mit dem Hinweis „vermisst 1947“. Ob es ein Kriegsverlust war? „Das liegt nahe, aber auch das bleibt im Dunkeln. Mit Sicherheit kann man nur sagen, dass 1947 danach gesucht wurde und nichts im Bestand zu finden war. Das wurde verzeichnet. Mehr nicht.“
Vielleicht ist das auch nicht wichtig, denn oft sind diese Rückgaben historischer Werke unerwartete Überraschungen: „Jedes Werk, das zurückgeführt wird, erfreut auf alle Fälle unser Herz“, sagt Julia Knödler.
Die Flugschrift aus der Zeit der Reformation ist bereits digitalisiert und komplett hier zu finden: http://dx.doi.org/10.25673/opendata2-140185
Die Bibliothek Ponickaus
Die Bibliotheca Ponickaviana ist eine bedeutende Sondersammlung der Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt. Sie stammt aus den Beständen der alten Wittenberger Universitätsbibliothek, die in großen Teilen nach der Vereinigung der Universitäten Wittenberg und Halle im Jahr 1817 an die hallesche Universitätsbibliothek kam. Zusammengetragen von dem Geheimen Kriegsrat Johann August von Ponickau (1718-1802), der sie der Wittenberger Universität im Jahr 1789 schenkte, und später kontinuierlich erweitert, ist sie eine einzigartige Sammlung von literarischen und anderen Zeugnissen zur Geschichte und Geographie der ehemaligen preußischen Provinz Sachsen und der anhaltinischen Gebiete, des Königreichs Sachsen und Thüringens.