Disput ohne Streit
„Zum ersten Mal seit 21 Jahren gab es keinen Zug der Senatoren in historischen Talaren durch Wittenberg“, darauf bezog sich Oberbürgermeister Eckhard Naumann in seinen Begrüßungsworten. Insofern sei die Veranstaltung mehr als sonst auf spannende Gedanken zu der Fragestellung gerichtet. „Zanksüchtigkeit kann sein, aber nur um der Wahrheit willen“, sagte er.
Acht Thesen legte Rainer Eppelmann, Vorstandsvorsitzender der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, vor. Er begründete sie anhand der eindrucksvollen Darstellung seiner eigenen Biografie. So spielte insbesondere die politische Wende des Herbstes 1989 eine Rolle, die ohne Kirche nicht denkbar gewesen wäre. Damit war ein breites thematisches Diskussionsfeld eröffnet, das sich unter der Moderation von Kirchenrechtler Prof. Dr. Michael Germann zu einem interessanten und sehr anregenden Gedankenaustausch entwickelte.
So richtig widersprechen mochte indes keiner der Opponenten, und es gab auch keinen Streit. Für alle der Thesen ein „Ja, aber…“, räumte stets Albrecht Steinhäuser, Beauftragter der evangelischen Kirche bei Landtag und Landesregierung Sachsen-Anhalt, ein. Prof. Dr. Everhard Holtmann, Forschungsdirektor am Zentrum für Sozialforschung Halle e. V. an der MLU, widersprach ausdrücklich nur einer These, nämlich dass „auch der Diktator einen Anspruch auf das Zeugnis der Wahrheit und auf Mitwirkung im Dienst des Menschen hat.“ Stephan Rether, Leiter des Katholischen Büros Sachsen-Anhalt, forderte schließlich, dass eine Klärung der Begrifflichkeit notwendig sei, um klarere Antworten zu erhalten. „Wenn es hier noch ein Mitternachtsmahl gäbe, könnten wir vielleicht die Begriffe definieren.“
Die Thesen reichten von der Aussage „Christen, Gemeinden und Kirche haben zu jeder Zeit, ob sie es wollten oder nicht, politisch geredet und gehandelt“ bis hin zu zeitgeschichtlichen Bezügen: „Im Ruf der großen Demonstrationen im Herbst 1989 'Keine Gewalt!', die den Sturz der SED-Diktatur einleitete, wurde die leise Stimme Jesu laut.“
Einig waren sich die Disputanten, dass die Kirche in jedem Falle und zu jeder Zeit politisch war und ist. Viele Detailfragen blieben offen, weil sie nicht klar mit einem „Ja“ oder „Nein“ zu beantworten seien, so Michael Germann. Anregungen und Inspirationen fürs neue Themenjahr brachte aber die Gesprächsrunde den Anwesenden in jedem Falle und wurde mit einem kräftigen Applaus belohnt.