Eine andere Zeit in einem anderen Land
Frau Kohl, Herr Ritter, wer hatte die Idee zu diesem Projekt?
Eva Maria Kohl: Die Idee, ein Buch über die ostdeutsche Kinderliteratur zu schreiben, treibt mich schon länger um. Ich habe in den 1970er Jahren am DDR-Zentrum für Kinderliteratur Berlin gearbeitet und kannte viele der Autorinnen und Autoren persönlich – Gerhard Holtz-Baumert, Hannes Hüttner, Christa Koczik, Benno Pludra, Peter Abraham. Später habe ich selbst Kinderbücher geschrieben und mich in meiner wissenschaftlichen Arbeit immer wieder auch den Klassikern der DDR-Literatur gewidmet. Viele Werke und ihre Schöpferinnen und Schöpfer drohen in Vergessenheit zu geraten, dagegen möchten wir mit unserem Buch etwas unternehmen. Zugleich war es mir wichtig, Michael Ritter mit ins Boot zu holen, um auch die Perspektive einer jüngeren Generation einfließen zu lassen.
Michael Ritter: Ich habe meine Kindheit in den 1980er Jahren in einem liberalen Elternhaus im heutigen Landkreis Mansfeld-Südharz verbracht, mein Vater war evangelischer Pfarrer. Bei uns wurde viel gelesen und auch vorgelesen, und dabei war es gar nicht so wichtig, ob es Bücher aus der DDR oder dem Westen waren. Ich bin mit Astrid Lindgren, Michael Ende oder Janosch ebenso aufgewachsen wie mit Benno Pludra, Franz Fühmann und Elizabeth Shaw. Somit hat auch mich die DDR-Literatur stark geprägt, auch wenn ich keine persönlichen Beziehungen zu den Autorinnen und Autoren hatte.
Ist das Buch eine Art Kompendium der ostdeutschen Kinder- und Jugendliteratur, das man als Nachschlagewerk gebrauchen kann?
Kohl: Nein, diesen Anspruch haben wir nicht verfolgt, dazu ist das Buch nicht umfassend genug. Es ist ein Essayband entstanden, der auf vergleichendem Weg einen möglichst unterhaltsamen und zugleich informativen Einblick bietet, besonders prägnante kinderliterarische Texte herausstellt und versucht, das Werk der Autorinnen und Autoren im historischen und biografischen Kontext zu verorten. Dabei kommt auch Anekdotisches nicht zu kurz, soweit wir Zugang zu solchen Quellen hatten. Somit ist unser Buch zum einen eine Erinnerungsstütze für all jene, die mit DDR-Literatur aufgewachsen sind. Allen anderen soll es einen möglichst unverstellten Blick auf eine Kinder- und Jugendliteratur bieten, die sich in manchen Punkten von der in der Bundesrepublik unterschied, in vielen jedoch recht ähnlich war.
Sie haben es angesprochen: Was unterscheidet denn die ostdeutsche von der westdeutschen Kinder- und Jugendliteratur?
Ritter: Zunächst einmal muss man festhalten, dass Literatur in der DDR eine gewollte, staatlich forcierte Literatur war. Vor allem in den 1950er und 1960er Jahren waren die Romane, Geschichten und Gedichte stark geprägt von Aufbruchstimmung und der Utopie einer neuen und besseren Gesellschaft. Von einer Gesinnungsliteratur würde ich jedoch nicht sprechen. Die in vielen Werken vermittelten Werte waren weit umfassender, die moralischen Prinzipien universeller, als dass man sie auf sozialistische Erziehung reduzieren könnte. Die Praxis hat ja auch gezeigt, dass differenzierte und anspruchsvolle Bücher meist die erfolgreicheren waren. Natürlich gab es auch ideologisch-linientreue Literatur, die hat uns aber weniger interessiert.
Kohl: Was die Bücher der Kinder- und Jugendliteratur der DDR meiner Meinung nach besonders auszeichnet, ist ihre Ästhetik. An die Buchgestaltung wurden sehr hohe Maßstäbe gelegt, die Illustrationen waren von ausgezeichneter Qualität. Nicht zuletzt deshalb wurden einige Werke zu Exportschlagern und auch im Westen gelesen, zum Beispiel die wunderbaren Bilderbücher von Elizabeth Shaw.
Die Kunst in der DDR war dafür bekannt, Kritik am System zu üben, auch wenn man eher zwischen den Zeilen lesen oder hören musste. Finden sich solche Ansätze auch in der Kinder- und Jugendliteratur?
Kohl: Die gab es durchaus, auch kritische Texte haben ihren Weg in die Buchhandlungen und Bibliotheken gefunden. Ich denke da zum Beispiel an Alfred Wellms „Karlchen Duckdich“: Da läuft ein kleiner Junge mit seiner jüngeren Schwester durch die Stadt und flüchtet sich in eine Märchenwelt, weil er sich alleingelassen fühlt. Das entspricht natürlich nicht dem sozialistischen Ideal der behüteten Kindheit. Auch Franz Fühmanns „Märchen auf Bestellung“ lassen sich durchaus als politische Texte lesen. Da gibt es zum Beispiel Doris Zauberbein, ein Mädchen, das zaubern lernen möchte, um aus seinem grauen Alltag auszubrechen. Doris möchte sogar wie ein Storch in den Süden fliegen. In der DDR bewegten sich solche Fantasien schon nah an der Grenze zur Systemkritik.
Ritter: Man kann erkennen, dass sich in den 1970er Jahren ein Gegenentwurf zur Aufbruchsthematik der Nachkriegszeit entwickelte. Die Geschichten spielen jetzt nicht mehr überwiegend auf dem Land, sondern tragen sich in urbanen Räumen zu und thematisieren zunehmend auch politische Missstände. In „Die Glasprobe und andere zerbrechliche Geschichten“ lässt Reinhard Griebner einen König regieren, der in einem gläsernen Palast sitzt und seinem Volk gegenüber sehr ignorant ist. Es ist sicher nicht weit hergeholt, wenn man hier an den Palast der Republik denkt.
Sollte man Kinder und Jugendliche ermutigen, auch heute noch Bücher aus der DDR-Zeit zu lesen?
Kohl: Auf jeden Fall! Es werden ja nach wie vor zahlreiche Werke verlegt, manche davon auch in größeren Auflagen, etwa die Bilderbücher von Elizabeth Shaw oder Benno Pludras „Bootsmann auf der Scholle“. Die meisten DDR-Bücher werden vorwiegend im Osten gelesen, was ich schade finde. In einem gerade erst gehaltenen Seminar haben mir Studierende aus den alten Bundesländern sehr positive Rückmeldungen zu ostdeutscher Kinder- und Jugendliteratur gegeben und ihr einen hohen pädagogischen und ästhetischen Anspruch bescheinigt.
Ritter: Man wagt einen Blick in eine andere Zeit und in ein anderes Land, das ist bereichernd, kann im Detail aber auch irritieren. In „Lütt Matten und die weiße Muschel“ etwa erzählt Benno Pludra von einem Jungen, der beim Fischen so produktiv sein will wie die Erwachsenen – das wirkt 60 Jahre später eher befremdlich. Außerdem tauchen hier und da Begriffe auf, mit denen die Kinder und Jugendlichen heute wenig anfangen können. Zum Beispiel ist in „Die Reise nach Sundevit“, ebenfalls von Pludra, der Pionierleiter eine wichtige Figur. Ich finde das nicht problematisch, im Gegenteil: Solche Begriffe und Bezüge regen zum Nachfragen und Diskutieren an. Deshalb sehe ich es grundsätzlich kritisch, sie nachträglich aus historischen Werken zu tilgen.
Das Buch
Eva Maria Kohl und Michael Ritter: Kindheitsgeschichten. Eine Spurensuche in der ostdeutschen Kinder- und Jugendliteratur, Gransee 2022, 292 Seiten, 27 Euro, ISBN 978-3-96611-025-9
Kommentare
Heide Seehars am 17.03.2023 16:24
Euer Interview macht sehr neugierig auf das Buch!
Ich wünsche euch viel Erfolg!
LG Heide
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