Eine neue Verbindung nach Istanbul
Als Putschisten am 15. Juli versuchten, den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan zu stürzen, befand sich der Strafrechtler Henning Rosenau gerade mit 18 Jura-Studierenden der Türkisch-Deutschen Universität im Harz bei einem Blockseminar. „Sie haben natürlich die ganze Nacht vor dem Smartphone gesessen und die Geschehnisse verfolgt“, erzählt er.
„Die Ereignisse haben im ganzen Land für tiefe Erschütterung gesorgt“, so der Professor, der mit den Teilnehmern der von ihm ausgerichteten Summer School zuvor über strafrechtlich brisante Themen wie die Beleidigung von Organen und Vertretern ausländischer Staaten diskutiert hatte. Im Vorfeld hatten die Gäste bereits das Verwaltungsgericht, das Amts- und Landgericht sowie die Justizvollzuganstalt in Halle besucht.
Als der türkische Präsident mit Verhaftungen, zehntausenden Entlassungen und anderen repressiven Maßnahmen auf den Putsch reagiert, stößt das in Deutschland auf Besorgnis und Kritik. Auch an der TDU wurden bis November sechs akademische Mitarbeiter entlassen. „Natürlich sind die Kollegen vor Ort besorgt. Letztlich ist die Freiheit der Wissenschaft gefährdet“, sagt Rosenau. Doch an der Istanbuler Hochschule habe sich wenig verändert. „Die Studierenden diskutieren offen mit mir und eine Gefahr für das freie Wort nehme ich an der TDU nicht unmittelbar wahr.“
Seit mehr als 15 Jahren engagiert sich der Jurist für die Zusammenarbeit mit türkischen Wissenschaftlern. „Ich hatte in meiner Zeit als Assistent einen Kollegen aus der Türkei, mit dem ich viel über die Unterschiede zwischen deutschem und türkischem Medizinrecht gesprochen habe“, erzählt der Direktor des Zentrums für Medizin-Ethik-Recht an der Uni Halle. „Damals wurden die Entwicklungen unter Erdoğan international noch sehr positiv bewertet“, erinnert er sich. Nach seinem Wahlsieg 2002 begann der neue Präsident der Türkei das Land zu reformieren.
„Er hat die Todesstrafe abgeschafft und das Strafrecht modernisiert. Dabei orientierte er sich am deutschen Modell. Deshalb ist das türkische Interesse am deutschen Strafrecht heute besonders stark.“ – Doch nicht allein aus diesem Grund gibt Rosenau seit dem Studienstart an der TDU jedes Wintersemester vier- bis sechsmal Blockseminare in Istanbul. „Für Juristen ist es generell wichtig, rechtliche Fragen nicht allein aus einer nationalen Perspektive heraus zu betrachten, sondern auch andere kulturelle Sichtweisen kennenzulernen, um zu erkennen, dass man Fragen der Strafbarkeit auch anders regeln kann.“
Finanziert wird die Lehre der Deutschen an der TDU über den Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD). Den Großteil der Kosten für das binationale Projekt zahlt die Türkei. „Die TDU ist ein Leuchtturmprojekt, durch das der Austausch von Forschung und Lehre zwischen beiden Ländern gefördert werden soll“, sagt Rosenau. Die interkulturell ausgerichteten Studiengänge werden in deutscher, englischer oder türkischer Sprache gelehrt. Die staatliche Hochschule unterliegt türkischem Recht. Ein deutsches Konsortium aus 36 Universitäten berät und unterstützt den Aufbau der Hochschule. Im Februar ist die Uni Halle in dieses Gremium, dem unter anderem die Universität Heidelberg und die Freie Universität Berlin angehören, aufgenommen worden.
Die Mitglieder des Konsortiums stellen auch einen Teil der Professoren. Als für den Aufbau des Studiengangs „International Finance“ ein Berater gesucht wurde, hörte sich Rosenau unter seinen halleschen Kollegen um. Der Ökonom Prof. Dr. Martin Klein nahm die Herausforderung an. „Wir bringen den passenden fachlichen Hintergrund mit. Und aus solchen Kooperationen können sich immer wieder überraschende, multikulturelle Möglichkeiten ergeben, die sich potenzieren“, sagt Klein, der gemeinsam mit seinem wissenschaftlichen Mitarbeiter Dr. Tobias Weirowski die Aufgaben als Berater und DAAD-Koordinator des Studienprogramms übernommen hat.
Im Mai führte der Professor für Internationale Wirtschaftsbeziehungen die ersten Gespräche in Istanbul. „Im Juni haben wir das Studienangebot geplant und schon im September ist der englischsprachige Master-Studiengang mit den ersten Studenten angelaufen.“ Genau wie Rosenau lehren Klein und Weirowski jetzt mehrmals im Semester in Istanbul. Die internationalen Finanzmärkte sind das Thema der englischsprachigen Seminare. Ihre Studierenden sind bereits berufstätig, die Vorlesungen finden in den Abendstunden statt. „Unabhängig davon, ob sie für den Staat oder für Unternehmen arbeiten: Durch ihre Ausbildung werden sie einmal die liberale Ordnung im Land stärken“, sagt Klein.
In der aktuellen, politisch schwierigen Situation halten alle Beteiligten den deutsch-türkischen Austausch für sehr wichtig: „Es ist unsere Pflicht, Kooperationskanäle offen zu halten. Unser Einfluss kann positiv und ausgleichend wirken. Wenn wir den Kontakt abreißen lassen, würde das nur noch stärker polarisieren“, betont Martin Klein. Nicht zuletzt sollen bald auch die Studierenden der Uni Halle von der neuen Verbindung nach Istanbul profitieren, kündigt Tobias Weirowski an: „Im Januar 2017 werden wir für Studierende von der TDU, von unserer italienischen Partneruniversität in Mailand und unsere deutschen Studierenden der Wirtschaftswissenschaften ein gemeinsames Blockseminar in Halle veranstalten.“
Kontakt: Prof. Dr. Henning Rosenau
Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtsvergleichung und Medizinrecht
Tel.: +49 345 55-23110
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