„Genscher half, Türen zu öffnen“
Erinnern Sie sich noch daran, wie Ihr erster Kontakt zu Hans-Dietrich Genscher zustande kam?
Günther Schilling: Wenn man so will, war dabei auch der Zufall im Spiel. Genscher sollte im Mai 1991 die Ehrendoktorwürde der staatlichen University of South Carolina in Columbia, der Hauptstadt des US-Bundesstaats South Carolina, erhalten. Von amerikanischer Seite hatte man ihm signalisiert, er könne sich bei seiner Reise anlässlich der Verleihung von einer deutschen Delegation begleiten lassen. Im Wesentlichen war er es, der auf die Idee kam, einen Theologen und mich als Rektor seiner Alma Mater mit dorthin zu nehmen. Denn er hatte 1946 in Halle ein Jura-Studium aufgenommen. Die Einladung hat mich natürlich sehr gefreut. Sie war der Auftakt für viele weitere und enge Kontakte.
Welche Erinnerungen haben Sie an diese erste Begegnung?
Bevor wir nach Columbia geflogen sind, verbrachten wir noch einige Tage in New York und Washington. Genscher war von Anfang an sehr offen. Obwohl er ja nur drei Jahre älter war als ich, habe ich ihn durch seine Ausstrahlung immer eher als väterlichen Freund empfunden. Beeindruckt hat mich, wie er Gespräche führte: Er war immer locker, trotzdem war alles, was er sagte, gut durchdacht. Er war stets um Ausgleich bemüht und nie auf direkte Konfrontation aus. Das war seine absolute Stärke. Und oft endete ein Gespräch mit einer kleinen Anekdote oder einem Wortwitz.
Wie verlief Ihre gemeinsame Reise und was hat sich daraus ergeben?
Diese Reise war für die weitere Entwicklung unserer Universität bedeutsam. Denn dort und auch später habe ich sehr intensive Gespräche mit Herrn Genscher geführt. Unser großes Thema war die Erneuerung der Universität, zu der er in den folgenden Monaten und Jahren vieles beigetragen hat. Das fing – wenn man so will – schon während der Reise an. Genscher half, Türen zu öffnen. So konnte ich viele amerikanische Wissenschaftler verschiedener Disziplinen und auch Vertreter anderer Hochschulen kennenlernen. Aber nicht nur für die Universität war die Reise wichtig, auch mir persönlich hat sie viel gebracht. Ich empfand diese persönlichen Kontakte zu internationalen Wissenschaftlern aus verschiedenen Kulturkreisen als sehr bereichernd. In Erinnerung ist mir auch geblieben, dass ich auf der Festveranstaltung zu Genschers Ehrendoktorwürde unfreiwillig viel Aufmerksamkeit auf mich gezogen habe. Ich war nämlich der einzige Gast, der in einem historischen Talar gekommen war. Die Amerikaner waren sehr erstaunt darüber. Zwei Professorinnen kamen sogar zu mir und fragten, ob sie das prachtvolle, mit Brokat besetzte Kleidungsstück mal anfassen dürften. Ich ließ sie natürlich gewähren. Anschließend mussten wir alle drei sehr darüber lachen.
Können Sie Beispiele für Genschers Wirken an der Universität Halle nennen?
Die Tatsache, dass er der Stadt Halle und der Martin-Luther-Universität stets zugetan war, äußerte sich sehr konkret. Er kanalisierte materielle Hilfen, die sonst zwar auch irgendwo in den Osten geflossen wären, aber eben nicht unbedingt nach Halle. Ein Beispiel dafür war die großzügige Schenkung einer US-amerikanischen Kasernenbibliothek aus dem schwäbischen Göppingen. Im März 1992 erhielten wir von dort 16.000 Bände unterschiedlicher wissenschaftlicher Fachgebiete für unsere Universitäts- und Landesbibliothek. Anlässlich der Übergabe waren Vertreter des US-Außenministeriums, der Landesregierung und natürlich auch Genscher selbst gekommen. Zuvor hatte er mit dem ihm eigenen diplomatischen Geschick dafür gesorgt, dass die Universität Halle als neuer Besitzer für diesen Bestand in Frage kam.
Wie konnte Genscher auf der politischen Bühne helfen?
Wie bereits erwähnt, war die Erneuerung der Universität das große Thema jener Zeit. Es galt, neue Strukturen sachlicher und personeller Art aufzubauen, die Demokratisierung voranzutreiben, die Freiheit des wissenschaftlichen Denkens zu garantieren und die Internationalisierung der Universität voranzutreiben. Wir hatten damals über 70 Studiengänge, deren Inhalte überprüft und angepasst werden mussten. Dabei galt es per Gesetz, alle Einrichtungen und Studiengänge abzuwickeln, die zu DDR-Zeiten die Ideologie des Marxismus-Leninismus verbreitet hatten. Genscher hat diesen Prozess durch Gespräche begleitet. Er war ein guter Zuhörer. Und es gelang ihm, sich in sein Gegenüber hineinzudenken. Er war einfach Diplomat durch und durch.
Aber er fand ja offenbar auch klare Worte, wie ein Beispiel aus Ihrer Zeit als Rektor zeigt.
Ja, das stimmt. Ich erinnere mich an das Jahr 1991. Damals stand eine neue Spar-Runde an der Universität Halle an. Das für uns zuständige Landesministerium für Kultur und Wissenschaft in Magdeburg hatte einige Tage zuvor bekanntgegeben, dass wir innerhalb weniger Monate weitere 1.000 Stellen abbauen sollten. Zu dieser Zeit – im Juni 1991 – wurde Genscher gerade die Urkunde als Ehrenbürger der Stadt Halle verliehen. Als Rektor wurde ich auch zur Festveranstaltung eingeladen und saß mit Genscher an einem Tisch. Ich erzählte ihm von den Nachrichten aus Magdeburg und sagte, dass ich mich auf harte Verhandlungen einstellen würde und auch, dass die verlangte Stellenkürzung mit großen Risiken für den Fortbestand der Uni verbunden sei. Kurz nach unserem Gespräch entschuldigte sich Genscher und wechselte an den Nachbartisch, wo Gerd Gies, der damalige Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, saß. Die beiden waren dann längere Zeit in ein Gespräch vertieft. Ich weiß bis heute nicht, worüber sie gesprochen haben. Aber ich glaube, es war kein Zufall, dass am nächsten Tag ein Fernschreiben aus Magdeburg bei uns im Rektorat ankam, in dem man die beabsichtigte Stellenkürzung zurücknahm.
Wäre die Martin-Luther-Universität ohne Genschers Hilfe heute eine andere?
Das kann man so pauschal sicher nicht sagen. Aber sein Einfluss war gerade in den Wendejahren bedeutsam. Durch seine stetige wohlwollende Begleitung und durch seine Kontakte auf politischer Ebene ist die Erneuerung der Universität damals gut vorangekommen. Das wurde auch überregional wahrgenommen – zum Beispiel durch die bundesdeutsche Hochschulrektorenkonferenz, die mich 1991 als ersten Vertreter einer ostdeutschen Universität in das Amt eines Vizepräsidenten gewählt hat.
Wusste man Genschers Hilfe an der Universität zu schätzen? Wie hat man sich bedankt?
Ich denke, es war allen Akteuren jener Zeit klar, was Genscher für uns getan hat. Nicht zuletzt deshalb ist ihm 1992 die Ehrensenatorwürde verliehen worden. Eine Auszeichnung, die bisher nur wenige Persönlichkeiten erhalten haben, so etwa Halles ehemaliger Bürgermeister Richard Robert Rive, der Bankier Heinrich Lehmann oder auch die Schwedin Elsa Brändström. Und Genscher hat sich damals sehr darüber gefreut. Er fand auch die Talare gut, die wir zu besonderen Anlässen wieder trugen. Vor der Verleihung kam er deshalb sogar zu einer Anprobe des für ihn bestimmten Talars an die Universität. Sie fand im Dienstzimmer des Rektors statt.
Hatten Sie auch noch nach Ihrem Ruhestand Kontakt zu Genscher?
Ja, und zwar in meiner Eigenschaft als Mitglied der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina – Nationale Akademie der Wissenschaften. Dort war Genscher Ehrenmitglied. Und auch wenn wir uns dann nicht mehr so oft gesehen haben wie früher, die alte Herzlichkeit und das Gefühl der Verbundenheit sind geblieben.
Zur Person
Von 1970 bis 1995 lehrte und forschte Günther Schilling als Professor für Physiologie und Ernährung der Kulturpflanzen an der Universität Halle. Ab 1983 hatte er zudem das Amt des Dekans der Landwirtschaftlichen Fakultät inne, bis er 1990 in der ersten freien und geheimen Wahl nach der politischen Wende zum Rektor der Martin-Luther-Universität gewählt wurde. Bis zum Ende seiner Amtszeit 1993 bekleidete der Agrarwissenschaftler auch das Amt des Präsidenten der Landesrektorenkonferenz, von 1991 bis 1995 war er zudem Vizepräsident der Hochschulrektorenkonferenz.
Schilling hat mit seinen Forschungarbeiten dazu beigetragen, die Pflanzenernährungslehre auf eine biochemisch-physiologische Grundlage zu stellen. Bereits 1969 wurde er aufgrund seiner herausragenden wissenschaftlichen Verdienste als Mitglied in die Leopoldina - Nationale Akademie der Wissenschaften aufgenommen.