Natürlich unnatürlich – Julia lernt sprechen, Anja hört zu
Steffi hatte keine Chance. Seit Ende der 1990er Jahre haben kaum noch Eltern ihr Baby Stefanie genannt. Ein Auslaufname. Und jetzt sind Steffis Stunden auch in der Straßenbahn gezählt. Ab Oktober wird Julia ihr nach und nach den Rang absprechen. „Wir rüsten unsere Fahrzeuge sukzessive mit neuer Technik aus, im Zuge dessen setzen wir Julia ein“, sagt Andreas Kleint, Gruppenleiter für das Leitsystem bei der Halleschen Verkehrs-AG (HAVAG). „Bei Steffi gab es immer wieder Kritikpunkte, und ganz zufrieden waren wir auch selbst nicht mit ihr.“
Julia wurde der HAVAG von den Kölner Verkehrsbetrieben empfohlen – und jetzt liegen sogar wissenschaftliche Erkenntnisse über ihr sie vor. Denn die Sprechwissenschaftsstudentin Anja Griesbach hat 88 der 400 Haltestellenansagen ausgewählt, mit Julia neu erstellt, auf eine bestmögliche Aussprache optimiert und in einem direkten Vergleich mit Steffi beide Stimmen untersucht.
„Als ich vor drei Jahren aus Chemnitz nach Halle kam, sind mir die Straßenbahnansagen recht negativ aufgefallen“, berichtet die 22-Jährige. „Keine gute Verständlichkeit, falsche Akzentuierung. Da klingt dann zum Beispiel die Stadt Halle wie die Stadthalle.“ Das Thema ließ die Studentin nicht los – und sie beschloss, ihm ihre Bachelor-Arbeit zu widmen. Sie untersuchte zum Beispiel, ob alle Laute gesprochen werden, welche davon richtig und welche falsch, und ob es Rhythmus- oder Melodieschwankungen gibt. Kommilitonen fungierten als Kontrollhörer.
„Der Wechsel zu Julia bringt tendenziell eine Verbesserung“, verspricht Anja Griesbach den Hallensern. Allerdings: „Auch Julia hat ihre Probleme, bei den ‚er‘-Endungen zum Beispiel. Sie spricht zudem recht abgedunkelt, das hört sich manchmal eigenartig an. Bei den Betonungen erscheint sie einem etwas übermotiviert.“ Fazit: „Es ist die zweitbeste Lösung. Ein Mensch ist immer besser als eine computergesteuerte Sprachsynthese.“
Die Bachelor-Arbeit war der HAVAG sehr willkommen. „Solch ein fundiertes Feedback zu bekommen, ist sehr interessant“, sagt Andreas Kleint. „Frau Griesbach hat ein geschultes Ohr. Sie hat festgestellt, wo Julias Grenzen liegen und wo man nachjustieren kann.“ Dass die Ansagen mit Julia definitiv verständlicher werden, habe man erleichtert zur Kenntnis genommen. „Natürlich hört man auch in Zukunft, dass es nicht natürlich ist. Aber der Kostenaufwand für individuell eingesprochene Ansagen wäre ungleich größer. Und bei jeder Änderung entstünden neue Kosten. Zudem bekäme man eine zu ändernde Ansage nicht gleich am nächsten Tag.“
Kleint ist schon gespannt auf die Reaktionen der HAVAG-Kunden. Sie zu befragen, wäre möglicherweise eine neue Abschlussarbeit wert. „Das wäre dann Sprechwirkungsforschung, die gehört auch zu unserem Metier“, erklärt Prof. Dr. Ursula Hirschfeld, die Anja Griesbachs Arbeit betreut hat. Die Julia-Expertin will sich im bevorstehenden Masterstudium der Sprechkunst und der Sprechbildung widmen. In ihrer Freizeit spielt sie bereits im „Sprechbuehne“-Ensemble. „Das Studium hier ist einfach schön, unheimlich vielfältig und motivierend.“
Und einzigartig, wie Ursula Hirschfeld betont: „Einen Bachelor-Studiengang für Sprechwissenschaft sowie ein konsekutives Bachelor-Master-Programm bietet in Deutschland nur die MLU an.“ Bewerber müssen eine Eignungsprüfung bestehen. Auch wer Steffi heißt, hat eine Chance.
Wer nicht bis Oktober warten möchte, kann Julia im Internet selbst testen: