Setzen, Sechs: Studierende benoten Top-Manager
Am liebsten spricht Angela Unger über das Sprechen. Seit 2007 ist die Sprechwissenschaftlerin an der Martin-Luther-Universität – bis 2012 als Studentin, heute als Dozentin. Die Bewertung rhetorischer Fähigkeiten ist ihr Tagesgeschäft. Im Sommersemester nun nahm sie gemeinsam mit fünf Studierenden auch den Sprech der DAX30-Vorstandsvorsitzenden unter die Lupe.
„Zwar hat es hie und da schon einige Rankings gegeben“, so Unger, „doch die meisten davon beschränkten sich ausschließlich auf den Inhalt des Gesprochenen, nicht aber auf Stimme, Aussprache und Performance.“ Zeit, das zu ändern. Dr. Stefan Wachtel, ebenfalls MLU-Absolvent und angesehener Kommunikations-Trainer, gab den Impuls, Unger übernahm die Umsetzung.
„Zuerst brauchten wir Videomaterial“, sagt sie. „Aus Zeit- und Geldmangel musste erstmal Youtube herhalten.“ So durchforstete sie zusammen mit den Seminarteilnehmern das Online-Portal nach geeignetem Material: Um in die Stichprobe aufgenommen zu werden, sollte ein Video die Rede eines DAX-Vorstandsvorsitzenden in seiner Funktion zeigen, deutschsprachig, qualitativ hochwertig und mindestens drei Minuten lang sein.
In einem nächsten Schritt dann musste ein Bewertungskatalog her. „Also haben wir uns bestehende Kontrollbögen vorgenommen, sie auf ihre Brauchbarkeit überprüft und ein neues, eigenes Bewertungsschema aufgebaut, das wir immer wieder überarbeiteten und verbesserten.“ Das Ergebnis: Eine Checkliste, die Kriterien wie Publikumsbezug, Blickkontakt sowie Sprech- und Sprachstil vermittels eines Punktesystems bewertet. Spricht der Redner Dialekt? Wenn ja, beeinflusst das sein Verständnis? Weiß er sich zu inszenieren? Womöglich mit einer gehörigen Portion Pathos? Wirkt er attraktiv?
So sehen Sieger aus: Muster-Sprecher René Obermann auf der Hauptversammlung der Deutschen Telekom 2013
Ausstattung genug, den Reden der Vorstandsvorsitzenden auf den Zahn zu fühlen: Mit Fokus auf die Gestaltung des Redeeinstiegs analysierte das Seminar-Team maximal drei Videos pro Person und fasste die Ergebnisse in Schulnoten zusammen. Besonders verdient machte sich dabei die Deutsche Telekom: Mit René Obermann (1,4) und Timotheus Höttgens (1,6) nimmt das Unternehmen in Magenta die rhetorische Spitzenposition ein, gefolgt von ThyssenKrupp (Heinrich Hiesinger, 1,6) und der Deutschen Bank (Anshu Jain, 1,8).
Linde-Chef und Euro-Kritiker Wolfgang Reitzle (3,8) landet auf dem letzten Platz. Zu seinem Trost jedoch sei angebracht, dass zehn Unternehmen wegen der zu kleinen Stichprobe gar nicht erst erhoben werden konnten. „Wissenschaftlich relevant sind unsere Ergebnisse damit nicht“, stellt Unger fest. „Dazu bräuchten wir mehr Zeit.“ Und vor allem Geld. Denn für ein professionelles Rhetorik-Ranking fehlt es noch immer an einer gründlicheren Kriterien-Prüfung, deren Objektivierung und einem größeren Datensatz.
So hofft das Seminar für Sprechwissenschaft und Phonetik auf Zeitungen oder Stiftungen, die sich dazu bereiterklären, ihre Rhetorikforschung weiter zu unterstützen. Auch Untersuchungen durch Abschlussarbeiten sind denkbar. Denn der Bedarf eines professionellen Prüf-Prozederes ist unstrittig: Auf Aktionärsversammlungen sind Überzeugungskraft, sprachliche Sicherheit und selbstbewusstes Auftreten absolutes Muss.