„Unsere Solidarität hat Grenzen“
„Eigentlich wollte ich Politik oder Geschichte studieren“, gibt Sven Ertel zu. Der 21-Jährige hat im niedersächsischen Salzgitter sein Abitur gemacht und ist zum Jurastudium nach Halle gekommen. Dass es letztendlich Jura geworden ist, sei eine Zweckentscheidung gewesen. Sven hätte sich anfangs kaum vorstellen können, in Halle zu studieren. „Bei uns ist Halle der Inbegriff des Ostens.“ Dass der „Inbegriff des Ostens“ die beste juristische Lehre in ganz Deutschland zu bieten hat, war für ihn der ausschlaggebende Grund, in die Saalestadt zu ziehen.
So geht es den meisten der 488 Jura-Erstsemester an der MLU: Über 60 Prozent der Studierenden sind aufgrund des Rankings des Centrums für Hochschulentwicklung (CHE) nach Halle gekommen. Das ergab eine Umfrage des Evaluationsbüros und des Hochschulmarketings der MLU. Das CHE-Ranking vergleicht deutschlandweit Studienfächer nach Kriterien wie Lehre, Betreuungsverhältnis und Ausstattung. In den Rechtswissenschaften haben die halleschen Juristen alle anderen staatlichen Unis im Jahr 2011 hinter sich gelassen.
Darüber freut sich auch der Dekan der Juristischen und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät, Professor Christian Tietje: „Das Rankingergebnis und der Zuspruch sind eine Anerkennung der Leistungsfähigkeit aller Kolleginnen und Kollegen.“ Bei allem Jubel gibt es aber auch Anlass zur Besorgnis: Für die knapp 500 Juraanfänger werden die Räume knapp. In den Vorjahren hatten sich pro Wintersemester etwa 230 neue Studenten immatrikuliert. Anstatt der üblichen 20 Teilnehmer gibt es in den Übungen jetzt häufig bis zu 30. Außerdem ist das Lehrpersonal relativ knapp bemessen. Trotzdem hoffen die Juristen in der nächsten Ranking-Runde wieder auf die Bestplatzierung und geben sich kämpferisch: „Die Bestnote ist unser Ziel.“
Anstrengungen auf allen Seiten
Um auf die zusätzlichen Studenten reagieren zu können, hat die Unileitung sogenannte Überlastmittel zur Verfügung gestellt. Allerdings sind diese Mittel nur auf das aktuelle Semester begrenzt. Die Lehre muss jedoch langfristig gesichert werden. Denn auch damit konnten die Juristen im Ranking punkten: Intensive Betreuung in kleinen Gruppen. Um eine langfristige Lösung zu erreichen, müssten neue Stellen geschaffen werden bzw. es müssten alle geplanten Stellen besetzt werden.
„Zurzeit sind 20 Prozent aller Stellen in der Jura unbesetzt. Eine Professur wird im Augenblick nicht freigegeben“, gibt Tietje zu Bedenken. Gerade vor dem Hintergrund des riesengroßen Andrangs sei das für ihn unverständlich. „Eine Universität ist nur so gut wie die Qualität ihrer Lehre. Die Hochschulleitung muss realisieren, dass die Universität nur um der Studierenden Willen da ist und dass es etlicher Anstrengungen im Studierendenbereich bedarf.“ Die derzeitige Lage ist für Christian Tietje aber auch kein Grund zu verzweifeln: „Ich denke, mit Anstrengungen auf allen Seiten – sowohl bei den Studierenden als auch bei den Lehrenden – ist das noch zu machen.
Von eventuellen Engpässen hat Sven noch nicht viel mitbekommen: „Bisher habe ich mich hier noch nicht verloren gefühlt.“ In den Kolloquien und Übungen hat er noch immer einen Sitzplatz bekommen. Bedenken hingegen hat er bei der vorlesungsfreien Zeit: „Wenn dann auf einmal 500 Erstsemester ins Juridicum stürmen, wird es sicher eng.“ Aber auch da bleibt der 21-Jährige gelassen: Manchmal müsse man halt auf andere Zeiten ausweichen.
Besser als zu Goethes Zeiten
Um die neuen Studierenden auf die nächsten Jahre gut vorzubereiten, gibt es für die künftigen Rechtswissenschaftler in den ersten Studientagen ein ausführliches Tutorenprogramm. Dort werden den Neu-Hallensern der Aufbau und die Feinheiten des Jura-Studiums erklärt. Damit soll sichergestellt werden, dass die Studierenden sich ohne Probleme in ihr Fach einleben können und organisatorische Probleme bereits im Vorfeld geklärt werden können. Die Tutoren werden aus höheren Semestern rekrutiert. Sie kennen alle Probleme also aus eigener Erfahrung und haben einige Tipps für die Neulinge. Sven ist von dem Konzept überzeugt: „Es war sehr gut, dass wir relativ langsam und intensiv ans Studium herangeführt wurden. Das wäre sicher auch für andere Fächer hilfreich.
Genau mit solchen Projekten konnten die Juristen im CHE-Ranking punkten. „Ein weiterer Punkt ist unser Repetitorium, also die Examensvorbereitung“, sagt Professor Tietje. In der Regel holen sich Jura-Studenten kurz vor ihren Examensprüfungen „Hilfe von außen“. Sie gehen zu privaten Unternehmen und nehmen extra Unterricht. Laut Tietje ist das nichts Besonderes: „Das hat sogar schon Goethe so gemacht.“ Optimal ist es aber trotzdem nicht, wenn Studenten neben der Uni noch zusätzlich Geld für Unterricht ausgeben müssen, um ihren Abschluss zu bestehen.
Der Dekan sieht darin einen Missstand, den es zu verbessern gilt: „Deshalb haben wir in den vergangenen Jahren diese Herausforderung sehr offensiv angenommen und gezielt Kurse angeboten.“ Die Maßnahmen tragen Früchte: Etwa die Hälfte aller Jura-Studenten nutzt die Angebote der Uni. In anderen Hochschulen würden 70 bis 80 Prozent der Studenten in private Repetitorien gehen. „Damit sind wir Spitze in Deutschland“, meint Christian Tietje. Auch das sei seiner Meinung nach ein Grund für das gute Ranking-Ergebnis gewesen.
Ohne NC gegen die Mauer der Schwatzenden
Sven kommt gerade aus dem Audimax. Mit ihm strömen Studierende auf eine Zigarette vor die Tür oder verschwinden in den Toilettenräumen. Hinter ihnen liegt eine Probeklausur in Staatsorganisationsrecht. „Die lief nicht so gut wie die ersten beiden Klausuren in Strafrecht I und BGB Allgemeiner Teil“, sagt Sven. „Sie war aber machbar, ich hätte nur mehr lernen müssen.“ Nach wenigen Minuten füllt sich der Vorlesungssaal wieder. Sven ist überrascht, dass es so voll wird. Die Juristen haben noch eine Vorlesung in Strafrecht bei Prof. Dr. Hans Lilie vor sich. Es wird eng im Audimax, aber auf der Treppe muss keiner der Studierenden sitzen.
„Anfang der Neunziger war die anders bestuhlte Aula noch vollständig gefüllt“, sagt Prof. Lilie. Die moderne Mikrofonanlage im Audimax mache es heute möglich, auch die Studierenden in der letzten Reihe zu erreichen. „Wichtig ist, die Neugier bei den Studierenden zu wecken, damit nicht eine Mauer aus Schwatzenden entsteht, die die anderen stört.“
In der Befragung unter den neuen Jura-Erstsemestern wurde deutlich, dass die Studierenden die hohe Einschreibezahl kritisch betrachten. Schließlich könne dadurch nicht immer eine optimale Betreuungssituation garantiert werden. Einige forderten sogar, einen Numerus Clausus für Rechtswissenschaften in Halle einzuführen. Den lehnt Christian Tietje allerdings entschieden ab: „Wir leben in Zeiten des Hochschulpakts. Wenn wir hier einen NC einführen würden, hätten wir die Zielvereinbarungen nicht erfüllt.
Etwa 2.800 Erstsemester haben sich im vergangenen Wintersemester an der MLU eingeschrieben. Knapp 500 davon sind angehende Juristen. „In den Wirtschaftswissenschaften sind das noch mal etwa 900 neue Studenten“, fügt Tietje hinzu. Damit stellt seine Fakultät etwa die Hälfte der Erstsemester an der MLU. Ein NC für Rechtswissenschaften sei ein „radikaler Schritt“, der für die gesamte Universität Konsequenzen hätte. Von daher werde man im Sinne des Solidaritätsgedanken vorerst keinen NC einführen. „Allerdings gibt es Grenzen unserer Leidens- und Solidarfähigkeiten, und diese Grenzen sind bald erreicht.“
Die "Moot Courts" der halleschen Juristen sind legendär. Zuletzt standen Hänsel und Gretel vor dem fiktiven Gericht. Bei den märchenhaften Gerichtsverhandlungen sind die Studierenden auch regelmäßig international erfolreich.