„Violinen wachsen nicht auf Bäumen“ - Olaf Lux im Interview über Klaus Schulze
Klaus Schulze, 1947 in Berlin geboren, zählt zu den weltweit bedeutendsten und einflussreichsten Elektronik-Musikern. Als deutscher Avantgarde-Künstler der 70er Jahre – er war kurzzeitig Mitglied bei Psy Free, Tangerine Dream und Ash Ra Tempel, bevor er 1973 seine Solokarriere startete – fällt Schulze unter das Genrelabel „Krautrock“. Er blieb aber weit über diese Zeit hinaus aktiv und beschritt dabei immer wieder neue Wege. Sein letztes, im Todesjahr 2022 erschienenes Album „Deus Arrakis“ erhielt im Februar den Schallwelle-Preis des Vereins Freunde und Förderer der Elektronischen Musik e.V. für das beste deutsche Elektronik-Album 2022.
Olaf Lux beschäftigt sich seit Jahren intensiv mit Schulze. Aus seiner Feder erschien 2021 unter dem Titel „Violinen wachsen nicht auf Bäumen. Leben und Werk von Klaus Schulze“ die bisher umfangreichste und fundierteste Publikation über den Musiker und sein gewaltiges Œuvre. Lux stand den MLU-Studierenden für eine volle Seminarsitzung Rede und Antwort.
Max Groschke: Wir freuen uns, dass du heute da bist. Wir möchten damit einsteigen, dass du über dich selbst erzählst und wir einen Einblick in dein Leben erhalten.
Olaf Lux: Ich habe beruflich nichts mit Musik zu tun. Ich habe Bankkaufmann gelernt. Das war so gar nicht mein Ding. Heute bin ich froh, dass ich es nicht gemacht habe. Ich habe dann angefangen zu studieren in Marburg, Literatur und Sprachen. Genauer Anglistik/Amerikanistik und Japanologie. Habe das allerdings abgebrochen aus familiären Gründen. Ich habe dann in diversen Büros gearbeitet und war ein paar Jahre bei der Deutschen Telekom. Dann wurde unsere Abteilung komplett aufgelöst und mein Abteilungsleiter, Chef und bester Kumpel hat gesagt: „Jetzt machen wir unser eigenes Ding!“ Er ist nach Amerika gegangen und hat dort ein Start-Up gegründet. Ich arbeite jetzt für dieses amerikanische Start-Up im Fitness-Bereich, wie man sieht. [Lachen] Nebenbei bin ich immer interessiert an Musik gewesen. Da kam mir auch die Idee, dieses Buch zu schreiben.
Tori Wagner: Wie kam es genau zu deiner Faszination rund um Klaus Schulze und zur Idee des Werkes über ihn?
Ich habe das Glück eines älteren Bruders. Der hat mich musikalisch erzogen. Das klassische Ding: Was der Bruder toll findet, findet man selbst auch toll. Wenn er nicht da war, bin ich in sein Zimmer geschlichen und habe mir seine Plattensammlung durchgeguckt. Es gab da so interessant aussehende Plattencover, die ich mir rausgesucht und die Musik angehört habe. So bin ich auf die klassischen Rocksachen von damals, also Pink Floyd, Genesis und sowas gekommen. Aber er hatte auch elektronische Musik. Die fand ich als Zwölf-/Dreizehnjähriger faszinierend. Im Freundeskreis wurde Neue Deutsche Welle gehört und Popmusik. Da kam man sich cool vor, wenn man zuhause nur für sich seine eigene Musik hatte, die man auflegen und sich einfach dort hineinträumen konnte. Es ist ja eine sehr imaginative Musik. So bin ich auch an Klaus Schulze gekommen. Andere Namen waren Tangerine Dream oder Jean-Michel Jarre, ein Franzose mit ähnlicher Musik. Kraftwerk ist natürlich bekannt, die dann eher in die Pop-/Synthie-Richtung gegangen sind.
Ich bin erst relativ spät dazu gekommen, ein Klaus-Schulze-Konzert zu sehen. Auf der Loreley gibt es ein Rock-Festival, das heißt „Night of the Prog“, findet jährlich statt. Da waren an dem Tag beide, Tangerine Dream und Klaus Schulze, auf der Liste. Ich bin mit meinem Bruder hingefahren und war begeistert, Feuer und Flamme. Das war so 2007, und ich dachte mir, warum gibt es keinen Klaus-Schulze-Fanclub. Da fing das mit dem Internet auch an und Facebook. Dort habe ich eine Klaus-Schulze-Fangruppe gegründet. Mittlerweile ist das eine Community, die aus ungefähr 2.000 Leuten besteht und in der man sich über solche Musik austauschen kann. Parallel habe ich mich immer sehr für Musikerbiografien interessiert. Bücher über Pink Floyd, Genesis oder andere Künstler wie Elvis haben mich fasziniert. Auch Dokus. Über Klaus Schulze gab es zwar Bücher, aber die waren alle schlecht. Es gab ein altes aus den 80er Jahren, das aber Ende der 80er aufhörte. Dann gab es ein paar Publikationen von Amerikanern und Franzosen, die mehr aus Fan-Sicht geschrieben haben. Da dachte ich mir, dass ich jetzt einfach mal das Buch schreibe, das ich selbst gerne hätte.
Max Groschke: Dein Buch ist sehr detailliert und gut verständlich geschrieben – es hat Freude beim Lesen bereitet. Warum hast du das Buch-Format für Leben und Werk von Klaus Schulze als geeignet empfunden? Und vor allem: warum diese Art des Schreibens? Du hast Exkurse mit dabei, in denen es um die Zeit geht. Und du schreibst nicht rein wissenschaftlich, sondern baust auch eine belletristische Komponente mit ein. Wie kam es zur Entscheidung für diesen Stil?
Das ist automatisch passiert. Ich habe schon immer gerne geschrieben und das Belletristische ist in meinem Schreibstil schon enthalten gewesen. Ich habe mich aber auch bewusst an Klaus Schulzes Stil angenähert, wie er kommunizierte. In Interviews war er ein sehr relaxter Typ, sehr locker, sehr berlinerisch. Er hat oft flapsig geantwortet, war immer plauderisch. Dieses Feeling wollte ich in meinen Text mit einbringen. Ich habe anfangs tatsächlich überlegt, ob ich richtig wissenschaftlich mit Fußnoten und so weiter arbeiten soll. Das wurde mir aber zu mühsam, sodass ich lieber ein umfangreiches Glossar mit Anhang gemacht und auf diese Weise meinen Fließtext ein wenig sauberer gehalten habe.
Tori Wagner: Im Titel stehen die Begriffe „Werk“ und „Leben“. Der Anteil zu den Werken ist aber erheblich größer als der zum Privatleben. Liegt das daran, dass Schulze ein Künstler der Mystifizierung und sehr verborgen war? Er hat lange Zeit im Wald abgeschottet gelebt – wird aber stets als sehr offen und zugänglich beschrieben.
Da gibt es zwei Aspekte. Einmal das, was du sagst: Er ist in Berlin geboren, hat dort lange gelebt und war Mitglied der Berliner Szene mit dem Zodiac-Club und dem Berliner Musik-Mikrokosmos. Seine Eltern sind dann in die Lüneburger Heide gezogen und er ist ebenfalls dorthin umgezogen, nach Westdeutschland. Damals waren Westdeutschland und die DDR ja noch streng getrennt. Für ihn waren zwei Dinge ausschlaggebend. Er wollte nah bei den Eltern sein. Und es war damals als Berliner sehr schwer auf Tour zu gehen in Deutschland, da man immer erst durch die DDR musste, Flüge waren zu teuer. Das war ein super Stress, die großen Gerätschaften am Zoll alle auszupacken, alles aufzuschrauben. Das war so kompliziert jedes Mal und so ein Gehetze, dass ein Leben in Westdeutschland viel leichter war. So ist er in die Lüneburger Heide gezogen, mitten in den Wald. Trotzdem war er kommunikativ, früher mehr als später. Das war wohl dem geschuldet, was alle Künstler früher oder später einmal erleben. Man bekommt immer dieselben Fragen gestellt, muss immer dieselben Interviews geben und das wird langweilig. Er hatte auch keinen Bock auf Buchhaltung und das Herumschlagen mit Plattenfirmen, er wollte sich auf seine Kunst konzentrieren und hat das alles delegiert und das hat auch dazu geführt, dass er zurückgezogener gelebt hat.
Max Groschke: Dein Buch ist überschrieben mit dem Schulze-Zitat „Violinen wachsen nicht auf Bäumen“. Warum hast du diesen Titel gewählt?
Es ist das griffigste und schönste Zitat von ihm. So ein Titel macht neugierig, und wer Klaus Schulze kennt, der weiß, woher das kommt. In der Anfangszeit haben Journalisten immer ein bisschen versucht ihn vorzuführen: „Du machst ja nur Musik mit Synthesizern und das ist kein richtiges Instrument. Du drückst da auf Knöpfe und das macht alles von selbst.“ Da hat er gesagt: „Ja nee, ein Synthesizer ist ein genauso echtes Instrument wie ein Konzertflügel oder eine Geige. Eine Geige wächst ja auch nicht auf dem Baum, sie muss auch hergestellt werden. Da steht jahrzehntelanges Knowhow dahinter, bis eine Geige so klingt, wie sie klingt. Ein Klavier herzustellen ist super kompliziert, da ist es schon fast einfacher, einen Synthesizer zu bauen. Der einzige Unterschied ist die Art der Klangerzeugung, akustisch über Saiten oder andere mechanische Dinge, oder eben elektronisch.“ Das ist, wie ich finde, sehr treffend. Damit wollte er sich nicht lustig machen, aber er wollte zeigen, dass Leute, die einen Synthesizer benutzen, richtige Musiker sind und dass man sich nicht denken muss, dass alles von selbst funktioniert.
Tori Wagner: Dein Buch ist sehr detailreich. Schulze war ein ziemlicher Workaholic und hat ungefähr 75 Alben gemacht. Es muss ein extremer Aufwand für dich gewesen sein, das alles zu sammeln. Wie lange haben die Recherche und der Schreibprozess gedauert?
Ich habe fünf Jahre für das Buch gebraucht, von der Idee bis zum Druck. Die Recherche war dadurch, dass ich mich für das Thema schon immer interessiert habe, gar nicht so schwierig. Durch das aufkommende Internet war es umso einfacher, auch an Artikel von Zeitschriften zu kommen, die man jetzt nicht mehr kaufen kann. Da hatte ich eine Fülle von Interviews und Material. Allein die ganzen Booklet-Texte und Plattencover-Informationen geben sehr viel her. Und da komme ich auf deine Frage von davor zurück, warum im Buch mehr über das Werk berichtet wird und viel weniger über das Leben. Das hat auch damit zu tun, dass ich Künstlerbiografien gelesen habe, in denen das Werk vernachlässigt wurde. Da wurden hauptsächlich Anekdoten erzählt. Oder zum Beispiel von Edgar Froese von Tangerine Dream habe ich eine Autobiografie gelesen, die ist erschienen, obwohl sie gar nicht fertig war – Edgar Froese war inzwischen gestorben. Da fehlen ganze Jahrzehnte. Wenn du jetzt als Fan etwas über dein Lieblingsalbum erfahren willst und das kommt da überhaupt nicht vor, dann bist du super enttäuscht. Aus diesem Grund kommt in meinem Buch jedes Album vor, jeder Track wird erwähnt. Dadurch ist der Umfang des Lebens etwas kleiner geworden, aber so viel hat er von seinem Privatleben auch gar nicht preisgegeben.
Max Groschke: Wir wollen trotzdem zu seinem Privatleben kommen und verbinden das mit der Musik. Du schreibst über die frühe Kindheit von Klaus Schulze. Er wurde 1947 geboren als Klaus Jürgen Schulze, zog nach Düsseldorf für eine Zeit und lebte dann mit seinen Eltern in Berlin-Dahlem, also Westberlin. Dann zog er nach Hambühren in der Lüneburger Heide. Der Vater war Journalist und Schriftsteller, die Mutter Balletttänzerin. Er kam aus einem bürgerlichen Haushalt. Er war dann auch auf einer Privatschule, und er hatte einen älteren Bruder, an dem er sich orientiert hat in Bezug auf das Schlagzeugspiel. Was lässt sich noch über die frühe Kindheit von Klaus Schulze und die Kontaktpunkte zur Musik berichten? Im Buch kommst du sehr schnell zu den ersten Erfahrungen mit Psy Free und Tangerine Dream und davor noch Les Barons.
Wie du sagst, gutbürgerliche Ecke und Erziehung. Damals gab es noch dieses „Unser Kind muss ein Instrument lernen“-Denken bei den Bürgerlichen. Er wurde zur klassischen Gitarre gezwungen, musste Bach-Stücke zupfen. Das war sein Einstieg in die Musik, da war er etwa 10 Jahre alt. Das ist alles sehr vage, da widerspricht er sich auch manchmal in seinen Aussagen, wann und wie lange er das gemacht hat. Aber als Kind an die Musik herangeführt wurde er wahrscheinlich durch seinen Bruder, der Schlagzeug in einer Jazzband gespielt hat. So kam er zum Trommeln. Les Barons war eine Schülerband, da ist nie irgendwas aufgenommen worden. Er hat da noch Bass gespielt und Gitarre. Wo er dann aber in Berlin in diese Szene kam mit Psy Free und so weiter, da ist er ans Schlagzeug gewechselt. Gute Drummer waren immer gesucht. So kam er später auch zu Tangerine Dream und zu Ash Ra Tempel. Irgendwann hat ihn das aber nicht mehr ausgefüllt, er wollte sein eigenes Ding machen. Er hat das versucht bei Tangerine Dream einzubringen, zum Beispiel mit Tape-Recorder-Sachen und solchen Geschichten und Geräuschen statt Schlagzeug, aber das fand Edgar Froese, der Chef vom Ganzen, nicht so gut. Er hat gesagt: „Entweder du spielst hier Schlagzeug oder gar nichts!“ Da hat Schulze gesagt: „Gut, ich mache jetzt mein eigenes Ding“ und fing dann an, an seiner ersten Platte, der „Irrlicht“, zu arbeiten.
Max Groschke: Dazu kommen wir noch. Aber nochmal zu den ersten zwei Bands, Les Barons und Psy Free. Du hast schon gesagt, dass man da keine Aufnahmen hat. Aber weißt du noch etwas Genaueres? Die hatten ja bei Psy Free schon diese etwas psychedelische Musik, mit Improvisation auf der Bühne. Wir fragen uns, wie wir uns diese Musik vorstellen können. Es gibt dieses schöne Zitat in deinem Buch: „Wer übt, fällt nur dem Kumpel in den Rücken!“ [lacht] Wie mögen die Konzerte abgelaufen sein?
Das wäre fast mein Buchtitel geworden – ist ja auch ein sehr schönes Zitat von ihm. Les Barons haben zum Beispiel die Beatles, Stones nachgespielt – also Beatmusik. Aber bei Psy Free war er in diese Szene gekommen und hat gesehen, dass es auch anders geht als nur Drei-Minuten-Popsongs nachzuspielen, die aus England kamen. Ihr habt im Seminar im Rahmen von Krautrock sicher oft davon gesprochen, dass jetzt die Idee war, etwas eigenständiges Deutsches aufzubauen. Trotzdem kamen dann aus England und Amerika Bands wie Pink Floyd oder Grateful Dead oder Jefferson Airplane, die sich auf die Bühne gestellt und gejammt haben, ohne große Struktur und so. Das ist viel im Krautrock übernommen worden, also freie Form, kein Songformat. Bei Psy Free kann ich mir vorstellen, dass der Drummer, Klaus, eine halbe Stunde einen Beat durchgezogen hat und der Gitarrist schrammelt auf seiner Gitarre und der Organist orgelt auf seiner Orgel herum. Das Ganze dann möglichst lange und mit schönem Strobe-Light, möglichst durchgeknallt. Ihr habt, glaube ich, das Zodiac im Seminar schon besprochen und da wurde auch ein kleiner Film gezeigt. So stelle ich mir diese Konzerte vor. Der Gitarrist Alex Conti hat ja auch lange noch Musik gemacht, in verschiedenen Bands, ist teilweise auch berühmt geworden. (>>nächste Seite)
Tori Wagner: Inwiefern hat die Zeit im Zodiac und anderen Clubs der Berliner Musikszene das Schaffen von Klaus Schulze beeinflusst?
Klaus hat das sehr gut erklärt. Die Idee war, erstmal alles kaputt zu machen und dann neu aufzubauen. Dieses „Alles-Kaputtmachen“ ist etwas wie im Punk Ende der 70er Jahre. Man macht etwas so wild wie möglich, um zu zeigen, dass man mit dem Vorherigen nichts mehr zu tun haben möchte. Klaus ist zwei Jahre nach Ende des Weltkrieges geboren. Damals lag Berlin in Trümmern. In allen Positionen – Lehrer, Politiker usw. – waren Alt-Nazis. Die Musik, die man gehört hat, waren Schlager oder Marschmusik. Da wollten die absolut nichts mehr mit zu tun haben, aber eben auch nicht nur nachmachen, was die Engländer gemacht haben. Und dann bot es sich an, wenn sich gerade in Berlin diese Szene als eine Insel für sich bildete, wo sich jeder kannte und sich jeder gegenseitig befruchtete, Ideen auszutauschen. Darum ging auch vieles damals in die gleiche Richtung. Wenn einer einen Synthesizer hatte, dann hat er den auch mal an die anderen Leute ausgeliehen und die haben damit herumgespielt. Das Zodiac hatte auf Klaus dahingehend einen großen Einfluss, dass er gemerkt hat, dass es für ihn persönlich nicht der Weg ist, den er gehen möchte. Diese freie Form des Rocks war nicht das, was er sein Leben lang machen wollte. Die Dinge, die ihm im Kopf herumschwebten, waren als Band nicht umsetzbar. Er wollte lange, sphärische Stücke komponieren und produzieren. Das war im klassischen Line-Up mit Gitarre, Schlagzeug und Bass so nicht möglich.
Tori Wagner: Die Berliner Szene wurde so populär, dass auch David Bowie für einen Dreh nach Berlin kommen wollte.
Das stimmt. Es gibt von David Bowie die Berlin Trilogie – das sind drei Alben, die in Berlin entstanden sind. Das hat auch den Hintergrund, dass er in Los Angeles einen so intensiven Umgang mit Drogen hatte, dass er eine Auszeit brauchte. Da war Berlin optimal, denn da kamen nicht mehr so viele Journalisten an und da ist er clean geworden und aufgeblüht. Er hat die Einflüsse der Berliner Musikszene in sich aufgenommen und diese Elemente in seine Musik übernommen.
Max Groschke: Die Berliner Musikszene ist auch ganz wichtig, wenn wir jetzt über Tangerine Dream reden. Wie ist er denn dahin gekommen? Du beschreibst das in deinem Buch sehr ausführlich.
Das war wieder so ein „Berlin-Ding“. Edgar Froese von Tangerine Dream ist mit seiner Freundin in einen Berliner Club gegangen und da spielte eine Live-Band. Edgar beschwerte sich, was die Band denn für ein komisches Zeug zusammenspiele. Seine Freundin und spätere Frau meinte allerdings, dass er seinen Blick einmal auf den Drummer richten sollte. Dieser wäre unfassbar ihrer Ansicht nach. Das war Klaus, der dort bei Psy Free trommelte, und das gefiel Edgar Froese so gut, dass er ihn für seine Band geeignet fand. Tangerine Dream war gerade erst entstanden und er hat Klaus angesprochen, ob er nicht Lust hätte, bei ihnen einmal zu trommeln. Klaus stimmte sofort zu und die anderen Mitglieder von Psy Free hatten nichts dagegen, da sie dann auch irgendwas anderes gemacht haben. Da hat er bei Tangerine Dream angefangen, denen war gerade ein schwedischer Drummer abgesprungen. So kamen die ersten Aufnahmen für das Album „Electronic Meditation“ zusammen, was witzigerweise kaum Elektronik hat und kaum meditativ ist. [lacht] Der Titel und das Cover, alles wurde von der Plattenfirma beziehungsweise von Labelchef Rolf-Ulrich Kaiser arrangiert. Edgar Froese hat erst von dem Album erfahren, als das Musterexemplar in seinem Postkasten auftauchte. Das war alles hinter dem Rücken veröffentlicht worden. Vielleicht können wir einmal hineinhören.
Max Groschke: Auf jeden Fall. Das Album ist 1969 veröffentlicht worden.
[Musik erklingt, „Ashes to Ashes“ vom Album „Electronic Meditation“]
Was habt ihr jetzt gehört? Da trommelt einer wild, da spielt einer wild auf der Gitarre und ein dritter macht irgendwas. Conny Schnitzler, der noch dabei war, hat in die Flöte geblasen, auf einer Schreibmaschine getippt und irgendwelche Geräusche gemacht. Das ist klassischer Krautrock, weshalb man Klaus Schulze auch gut dem Krautrock zuordnen kann.
Max Groschke: Wie kam denn speziell diese Musik bei den Hörern an?
Die Platte hatte keinen kommerziellen Erfolg und auch in der Presse wurde sie abgelehnt. Vielleicht hören wir uns einmal die Hitparade von 1972 an.
[Musik erklingt, Hitparade aus dem Jahre 1972 in Ausschnitten]
Das ist zum Beispiel Marianne Rosenberg, die immer noch mit den gleichen Liedern bei Helene Fischer im Vorprogramm läuft. Es musste mitgeklatscht werden, ganz wichtig. Sowas haben meine Eltern damals auf Feiern aufgelegt und ich kann heute, was eigentlich schlimm ist, noch alle Lieder mitsingen. Und dann sowas wie „Electronic Meditation“ – damit konnte wirklich niemand etwas anfangen, außer die Szene in sich. Es war eigentlich ein Wunder, dass eine Plattenfirma das Interesse hatte, sowas zu veröffentlichen. Sie hatten Glück, dass sie an Rolf-Ulrich Kaiser gekommen sind, der einen Wert im Erhalt dieser Musik für die Nachwelt gesehen hat.
Max Groschke: Rolf-Ulrich Kaiser hat eine sehr wichtige Rolle gespielt. Er hat super viel veröffentlicht. Später gab es aber auch Rechtsprobleme mit ihm.
Er hat das Ohr-Label gegründet, mit einem Ohr als Logo. Ganz viele von den Krautrockbands sind da herausgekommen, woanders wären sie gar nicht genommen worden. Er hatte aber die Tendenz, esoterisch zu verklären. Seine Pressetexte waren sehr abgedreht. Die Künstler konnten sich teilweise gar nicht mehr damit identifizieren. Wie schon gesagt, hat er „Electronic Mediation“ herausgebracht, ohne die Band zu fragen. Da gab es dann einen Rechtsstreit, damit die Band die Rechte an ihrer eigenen Musik wieder erhielt und er nicht das gesamte Geld dafür bekam.
Tori Wagner: Schulze hat mal gesagt: „So etwas passiert nur einmal im Leben, als ich beschloss eine neue Form von Musik, eine neue Ästhetik zu erschaffen, als alles aus Amerika oder England zu übernehmen. Ich fing an, ohne zu wissen, was ich suche. Wie ein kleiner Junge spielte ich an den Knöpfen herum.“ Kannst du uns zu seinen Anfängen am Synthesizer mehr erzählen und auch dazu, wie es zu dieser technischen Versiertheit kam?
Ich möchte gern noch einen Schritt zurück gehen zur ersten Platte „Irrlicht“. Die hat er gemacht, ohne einen Synthesizer zu haben, und das ist faszinierend. Zunächst denkt man an Synthesizer-Musik, aber alles, was er damals hatte, waren eine Orgel, ein Gitarrenverstärker und ein Tonbandgerät. Er hat wild an dieser Orgel herumgelötet und herumprobiert, um irgendwelche anderen Klänge herauszubekommen. Mit dem Gitarrenverstärker hat er versucht, Feedback zu erzeugen, um an komische Klänge zu kommen. All das hat aber nie das erzeugt, was er gerne gehabt hätte. So kam er auf die Idee, ein Orchester aufzunehmen. Er ist an die Musikhochschule Berlin gegangen und hat gefragt, ob er da während der Proben aufnehmen darf. Der Kapellmeister hat gesagt: „Kein Problem, kannst du machen!“ Also kam er mit seinem kleinen Kassettenrekorder und hat aufgenommen. Dann wurden die Musiker, die ja hauptsächlich klassische Musik machten, aufmerksam und fragten, warum er denn diese Aufnahmen mache. Er hat versucht, das denen zu erklären, und sie haben ihm versprochen, einmal speziell für ihn eine Session zu machen. Sie konnten aber trotzdem nicht nachvollziehen, warum er jetzt fünf Minuten lang zum Beispiel nur einen Ton haben wollte. Im Prinzip wollte er das, was heute Synthesizer machen. Da drückst du auf String, dann hast du Strings, oder du drückst auf Bläser, dann hast du Bläser – gab es damals nicht. Er hat also einzelne Streicher aufgenommen und dann konnte er die schneller oder langsamer abspielen, die Tonhöhe verändern – ein selbstgebauter String-Synthesizer. Dann konnte man das noch vorwärts oder rückwärts spielen, mit verschiedenen Verzerrungen arbeiten. Vielleicht können wir ja mal in den Anfang von „Irrlicht“ hineinhören.
[zeigt die Platte]
Das ist jetzt die Plattenhülle. Wenn ihr so ein Plattencover seht, was würdet ihr euch vorstellen, wie die Musik dazu klingt?
aus dem Kurs: Abgespaced!
Auf jeden Fall irgendwie Science-Fiction- oder Alien-mäßig.
aus dem Kurs: Ein bisschen einsam und kühl, vom Bild her. Oder auch fremd, fremd für das Ohr?
Die Figur auf dem Cover ist für mich kein Mensch – oder doch?
aus dem Kurs: Eher nicht, nein.
Ein bisschen, wie man sich Aliens vorstellt. Das Gemälde, das dahinter steckt, ist von einem Schweizer Künstler, der auch nicht mehr lebt. Er heißt Urs Amann, und das Bild hat den Titel „All-Eingang“. Das oben soll die Erde sein. Da sieht man die Iberische Halbinsel und Afrika, also sind wir nicht auf der Erde. Also sind wir in der Space-Musik oder wie man sich das vielleicht vorstellen mag. Auch der deutsche Titel ist ungewöhnlich, denn für andere Künstler damals wurden oft englische Titel genutzt.
[Musik erklingt, „Ebene“ aus dem Album „Irrlicht“]
Max Groschke: Man hat das Gefühl, dass man in einen Sog kommt.
Das Stück heißt „Ebene“ und soll wahrscheinlich die Weite dieser Ebene musikalisch darstellen. Von der Machart her – am Anfang die Orchester-Samples und die Streicher, die da pulsiert haben, dann der Einsatz der Orgel –, das ist tatsächlich nur ein Ton. Drei Minuten lang haben wir einen Ton gehört, der nur durch Modulation und Tonlautstärke verändert wurde. Keine Melodie, aber trotzdem passiert unglaublich viel in diesem einzigen Ton. Ich glaube, dass es genau das war, was er erreichen wollte. Mit minimalen Mitteln wollte er maximale Effekte haben. Es gibt eine Anekdote, wo er zum Radio gegangen ist. Damals war das noch möglich. Da ging man einfach zu einer Radiostation und sagte: „Ich habe eine neue Platte aufgenommen, wollt ihr die nicht einmal spielen?“ Die haben interessiert geguckt und das Ding aufgelegt, und dann fing „Ebene“ an. Da guckten sich die Herren Toningenieure an und fragten sich, ob da noch irgendwas passiert. Schulze meinte: „Ja, das baut sich langsam auf.“ Dann haben die nach drei Minuten gesagt: „Gut, das passt jetzt nicht so in unser Programm. Vielen Dank und auf Wiedersehen.“ Das Talk-Back vom Studio war noch eingeschaltet. Beim Rausgehen hörte Klaus, wie sie über ihn hergezogen sind: „Was ist denn das für ein Idiot? Bringt er da irgendeine Brummschleife! Die werden ja immer verrückter! Was für blödsinnige Sachen machen die heutzutage?“ Heute nennt man das Drone- oder Ambient-Musik, die ist aber schon viel früher angedacht worden.
Tori Wagner: Zu Schulzes Inspirationsquellen und Vorbildern gehören die Minimalisten Terry Riley und Steve Reich, und das Minimalistische spiegelt sich in seiner Musik wider. Der Journalist und Künstler Ecki Stieg sagt in seinem Nachruf auf Schulze: „Seine Musik hat mein Leben und meine Sichtweise sehr verändert. Schleichend langsam die scheinbaren Widersprüche auflösend. Es ist eine einfache, aber tiefe Philosophie. Es geht um das Einlassen, das Sich-Zeitnehmen, die Muße, auch in einem Wassertropfen ein Universum zu finden.“ In einem Interview von 1997 hat sich Klaus Schulze relativ kritisch gegenüber dem Gerätewahn und dem damit verbundenen Konsum geäußert. Inwiefern findet sich das Minimalistische auch in Schulzes Lebensstil wieder?
Gute Frage. Ich glaube, eher nicht. Klaus war ein Lebemann, und er war den Damen nicht abgeneigt, die man auch als elektronischer Musiker kriegen konnte. Er war dreimal verheiratet, hat immer nicht so lange gehalten. Er hatte immer irgendwelche Damen am Start, und er hat Alkohol, Zigaretten und anderen Drogen konsumiert. Am Ende war er schwer alkoholkrank, jahrzehntelanger Kettenraucher und was man damals noch so an Kräutern im Krautrock geraucht hat – bewusstseinserweiternde Sachen und so. Da war er nicht sehr minimalistisch unterwegs. Musikalisch gab es repetitive Strukturen, und das kam in der Musik von Klaus gerade dann, wo er die ersten Sequenzer hatte, zum Tragen. Er hat auch immer von der Schönheit der Monotonie gesprochen, dass sie dich in einen Zustand bringt, in dem du deine Gedanken schweifen lassen kannst. Und das ist ja der große Unterschied zwischen solcher Musik und, ich sage einmal, songorientierter Popmusik. Wenn die Beatles singen: „She loves you, yeah, yeah, yeah“ – da gibt es nicht viel zu interpretieren. Da geht es um sie, die dich liebt, und „yeah, yeah, yeah“. Aber bei Musik wie der von Klaus Schulze – da ist jeder für sich selbst als Hörer gefragt. Klaus hat immer gesagt: „Wenn ich ein Musikstück fertig habe, dann ist es nur halb fertig. Die andere Hälfte muss der Hörer machen.“ Also bietet er dir etwas an, das zum Beispiel den Titel „Ebene“ hat, der dir eine Richtung zum Denken gibt. Aber er hat auch immer gesagt: „Im Prinzip will ich meine Musik nur Stück eins, zwei, drei, vier nennen“ – das wäre ziemlich langweilig auf der Platte, aber das würde dem Hörer noch mehr Freiheit geben, da etwas selbst hineinzudenken.
Hansjörg Drauschke: Zwei kurze Einschübe. Einmal zu „Eins, Zwei, Drei …“. Cluster haben das zum Beispiel gemacht, da wurden aber die Längen der Stücke als Titel benutzt. Und zu den Minimalisten und repetitiven Strukturen. Genau die gleichen Namen zählt auch Irmin Schmidt auf als die Leute, die ihn beeinflusst haben. Das finde ich eindrucksvoll, denn die Musik, die CAN macht, ist komplett anders als das, was wir gerade gehört haben. Aber es gibt bestimmte Grundtendenzen, die sich trotzdem wiederfinden, wie ein Bodensatz vielleicht, aus dem sich dann verschiedene Gewächse entwickeln. Zum Beispiel den Drone-Sound und das emotionale Moment, das damit einhergeht – was passiert mit einem, wenn man minutenlang einen Ton, der sich in sich selbst bewegt, hört.
Man kann natürlich einschränken, dass es wirklich nur drei, vier solche Künstler damals gab, an denen man sich hätte orientieren können. Dass am Ende alle darauf zurückkommen, ist nicht verwunderlich.
Hansjörg Drauschke: Spannend fand ich, wie unterschiedlich die musikalischen Richtungen sind, die darauf aufbauten.
Interessant ist, noch Stockhausen in die Diskussion zu bringen. Es gab ja schon eine deutsche Schule der elektronischen Musik lange vor dieser Zeit, vielleicht zehn Jahre vorher, den akademischen Ansatz. Da hat Karlheinz Stockhausen abgewägt, was man in der Klassik mit elektronischer Musikerzeugung machen kann. Das war aber sehr akademisch, sehr in Muster gefasst, interessant anzuhören, absolut null Unterhaltungswert, und davon wollten sich Künstler wie Klaus oder Tangerine Dream absetzen. Die wollten nicht den akademischen Ansatz, die wollten für Hörer was produzieren.
Hansjörg Drauschke: Nun sind die Stockhausen-Schüler ja auch von Stockhausen weggegangen. Wir hatten im Kurs das Statement von Stockhausen zum Album „Phallus Dei“ von Amon Düül, wo er sich so ein bisschen [lacht] herablassend äußert über die …
Ach stimmt. Dem haben sie ja da ein paar Sachen vorgespielt, was er davon hält.
Hansjörg Drauschke: … über die musikalische Struktur – das sei doch alles ziemlich dünn.
So ein bisschen die akademische Arroganz, die da spricht. (>>nächste Seite)
Tori Wagner: Ein paar Worte zur Kommerzialisierung. Es kommt in Interviews durch, dass Klaus Schulze seiner Technik treu geblieben und nicht – außer wenn es um Speicherplatz ging – dem „Gerätewahn“ erlegen ist. Schaffte er es auch, nicht kommerzialisiert zu werden? Er äußerte sich kritisch zu „Deppen-Techno“ – Musiker, die sich kommerzialisieren ließen und sich anpassten.
Ich weiß, auf welches Interview ihr da anspielt. Das ist allerdings in den 90ern geführt worden. Vorher war er schon ein sehr Technik-geiler Typ. Gerade ganz am Anfang, wo er noch gar nichts hatte. Da war er sehr heiß darauf, einen Synthesizer zu haben. Die waren damals sehr teuer. Wie will man da herankommen? Er hatte durch Zufall von Florian Fricke von Popol Vuh den großen Moog kaufen können für 10.000 Mark, und dann hat er es geschafft, die Plattenfirma zu erpressen und gesagt: „Entweder ihr streckt mir das vor, oder ich mache keine Platten mehr für euch“. Und die haben das gemacht – heute undenkbar. Dann hat er den Park immer weiter ausgebaut, bis dann alles digitalisiert wurde – dann musste er den kompletten Gerätepark nochmal neu machen, musste dann MIDI-fähig sein usw. Zu dem Zeitpunkt dieses Interviews, wo er meinte, er hat eigentlich alles, was er braucht – da hatte er auch eigentlich alles. Danach hat er nicht mehr viel anschaffen müssen. Er war dann aber auch so bekannt, dass die Hersteller-Firmen an ihn herantraten: „Willst du nicht mal unser neues Gerät ausprobieren?“ Da musste er kein mehr Geld für bezahlen.
Tori Wagner: Seine CD „Are You Sequenced“ sollte nicht gekürzt werden – damit war auch die Plattenfirma einverstanden. Dass sie aber mit Bonus-CD bei gleichbleibendem Preis verkauft werden konnte, kam nicht durch. In diesem Interview sagte er dazu: „Was will man da machen? Was willst du Industriehandel verbieten?“
Ich glaube, man überschätzt den Einfluss des Künstlers, sobald eine Plattenfirma eine Produktion übernommen hat, sprich: da das Geld reinsteckt. Dann bestimmen die alles. Wie das Cover aussieht, wie die Titel heißen, ob es eine Bonus CD gibt oder nicht und was das kostet. Das hat ihn am Anfang geärgert, aber am Ende hat er gesagt: „Komm’, lass’ die machen“. Dann ist es auch wichtig, eine Plattenfirma zu finden, mit der man kommunizieren kann und sagen kann, was man machen möchte. Und da sind kleinere Plattenfirmen oft besser als die großen Universal, Sony usw. Die können dir alles draufdrücken, da kannst du nichts gegen machen.
Max Groschke: Kommen wir zu den Synthesizern. Es gibt das Album „Cyborg“ – „Kyborg“ wird es ausgesprochen, das hängt mit „kybernetisch“ zusammen, wie du schreibst. Das ist das erste Album, für das er mit dem Synthesizer gearbeitet hat. Welches Gerät hat er da benutzt, und kannst du uns diese Art von Stücken vorstellen? Zu der Zeit waren Synthesizer ja noch nicht so, wie wir sie heute kennen.
Ich bin kein Synthesizer- und Technikfreak. Ich weiß, sein erster Synthesizer hieß VCS3, von der Firma EMS. Das Nachfolgemodell EMS Synthie A hat er dann in London gekauft und durch den Zoll geschmuggelt, was bei dem Ding nicht so schwer war, weil der sah wie ein Koffer aus, wenn man ihn zuklappte. Heute stellt man sich ja einen Synthesizer vor wie ein Keyboard mit einem Kasten dran, wo man verschiedene Einstellungen machen kann. Damals war das nur der Kasten und eigentlich nur ein Geräusch-Erzeuger. Man hat Wellenformen erzeugt – Sinuswelle, Sägezahnwelle. Die haben bestimmte Klänge, und wenn man die verzerrt, kann man neue Klänge erstellen. Es gab Steckverbindungen, wo man Tonhöhen verändern und verschiedene Modulationen machen konnte. So wurden erste Synthesizer-Klänge in seine Musik eingebaut. Das waren meist Zwitscher-Sounds oder solche Sachen, die man damals anders nicht erstellen konnte. Selbst ein langgehaltener Akkord oder Ton ist akustisch nicht herstellbar. Wenn du auf eine Klaviertaste drückst, hallt die nach einigen Sekunden aus. Das Einzige waren Orgeln, die einen Ton länger halten konnten. Eine Orgel ist aber noch kein Synthesizer, weil eine Orgel nur einen ihr innewohnenden Klang erzeugen kann. Beim Synthesizer kannst du diesen Klang selbst einstellen. Das hat eine ganz andere Art Musik zu machen ermöglicht. Genauso wie die Sequenzen. Die sind natürlich auch manuell herstellbar. Das haben ja Leute wie Terry Riley auch gemacht. Die haben stundenlang auf dem Klavier immer das Gleiche gespielt. Aber das ist natürlich super schwierig, und es ist viel einfacher, ein Gerät diesen „Sequenzer-Lauf“ machen zu lassen.
Max Groschke: Vielen Dank für den Einblick! Wir möchten weitergehen zu „Blackdance“ von 1974. Ich möchte gar nicht so genau auf die Platte eingehen, sondern eher auf etwas Allgemeines kommen. Wir haben den Titel, und du hast schon gesagt, dass viele Stücke von Klaus Schulze zwar einen Namen haben, er aber gesagt hat, man könnte sie auch Erstens, Zweitens, Drittens nennen. Inwiefern ist der Titel „Blackdance“ Programm der Platte und was kann man zu den Titelbezeichnungen allgemein sagen? Wie kommen diese Namen überhaupt zustande?
„Blackdance“ ist, soweit ich weiß, ein Begriff aus dem Tanz, aber ich glaube, Klaus fand einfach den Klang interessant. Berühmte Alben von ihm heißen „Timewind“ oder „Moondawn“. Immer zwei Begriffe, die für sich stehen, vielleicht gar nicht so zusammenpassen: „time“ und „wind“. Aber man kann was damit assoziieren oder wird dazu angeregt, sich was vorzustellen. Bei „Blackdance“, schätze ich, ist er über diesen Begriff gestolpert und fand ihn interessant. Was die einzelnen Titelnamen angeht – man hat ihn hundertmal gefragt, warum ein Stück so oder so heißt. Er hat immer gesagt: „Das könnte auch anders heißen. Das habe ich mir im Nachhinein ausgedacht“. Vielleicht bei „Ebene“ von „Irrlicht“ hat er sich tatsächlich was gedacht. Da könnte ich mir vorstellen, dass er den Begriff schon im Kopf hatte: „Ich versuche jetzt, eine Ebene zu vertonen“. Das zweite Stück hier heißt „Gewitter“. Das klingt auch ein bisschen nach Gewitter.
[Musik erklingt, „Gewitter“ vom Album „Irrlicht“]
Vielleicht dachte er sich im Vorfeld, das lange ebene Stück endet in diesem Gewitter. Aber später hat er sich keine Gedanken mehr darüber gemacht. Teilweise hat die Stücke auch gar nicht mehr er benannt, sondern sein Verleger.
Hansjörg Drauschke: Du hast vorhin gesagt, dass auf „Irrlicht“ mit Orchester, mit Samples, gearbeitet wurde, aber ohne Synthesizer. Das Gezwitscher am Anfang von „Gewitter“ ist eigentlich ein typischer Synthesizer-Sound. Weißt Du, wie das hier zustande gekommen ist?
Er hatte einen defekten Gitarrenverstärker mit Tremolo-Funktion. Dadurch konnte er einen Orgelklang zwitschern lassen.
Hansjörg Drauschke: Er hat die Orgel durch den kaputten Gitarrenverstärker gegeben?
Genau. Und mit der Tremolo-Funktion hat er Zwitscher-Sounds erzeugt. Die typischen Workarounds der Anfangsjahre.
Max Groschke: Mir ist aufgefallen, dass viele Alben gewidmet sind, zum Beispiel an seine Kinder, seine Mutter, seinen Vater. Lässt sich das als persönliche Note von ihm begreifen, war es ihm besonders wichtig, seine Musik bestimmten Leuten zu widmen?
Ja, er hat sich Gedanken gemacht, wem widme ich was. Zum Beispiel hat er seiner Mutter, die mal Balletttänzerin war, seine vier Ballett-Alben gewidmet. Die „Mirage“, die wir am Anfang gehört haben, hat er seinem an Krebs verstorbenen Bruder kurz vor seinem Tod gewidmet. Und mit dem Wissen klingt die auch traurig, finde ich.
Tori Wagner: Und „Timewind“ ist Richard Wagner gewidmet. Auch ihn nannte er als Vorbild. Siehst du konkrete Parallelen zwischen seiner Musik und Wagner – war Wagner eine Inspirationsquelle für Schulze?
Da kann ich leider nichts zu sagen, weil ich Wagner nicht gut kenne. Habt ihr Ahnung von Wagner? Kannst du da was zu sagen, ob es Parallelen gibt? [an Hansjörg Drauschke gewandt]
Hansjörg Drauschke: Dafür kenne ich „Timewind“ nicht gut genug. Aber Wagner war eine wichtige Größe für Schulze. Es gibt auch das Wahnfried-Projekt, das sich explizit auf Wagner bezieht.
Wagner ist sehr bombastische Musik. Vielleicht hat auch Schulze in diese Richtung tendiert.
Hansjörg Drauschke: Ich kann mir vorstellen, dass ihn die großen, ausgedehnten und epischen Formen fasziniert haben.
Ja, stimmt. So wegen der Nibelungen und solchen Geschichten. Wenn man es unvoreingenommen betrachtet, hat die Musik von Klaus Schulze eher etwas mit klassischer Musik zu tun als mit Songs. Vom dramaturgischen Aufbau her einer Symphonie gar nicht unähnlich. Ich glaube, dass er sich mehr in Richtung moderne Klassik sah, als „Ich mache Popmusik“.
Max Groschke: Wir würden mal in „Ludwig II. von Bayern“ hineinhören.
Das würde jetzt perfekt passen. Da kombiniert er ja Klassik mit seiner Musik.
Max Groschke: Noch eine Frage vorher. Bei seinen Touren war auffällig oft Frankreich dabei. Hat er dort ein ganz besonderes Publikum gehabt? Welche Bedeutung hatte das Land für Klaus Schulze?
Die Franzosen haben elektronische Musik geliebt. Das ist schwer zu erklären. Wir in Deutschland finden immer englische Musik toll, also eher etwas aus dem Ausland. Und den Franzosen kamen vielleicht diese elektronischen Sachen aus Deutschland, ohne Texte, die man nicht verstehen oder missverstehen kann, sehr gelegen. Da gab es regelrechte Festivals, wo Kraftwerk, Tangerine Dream und Klaus Schulze an einem Tag aufgetreten sind, teilweise zusammen dahin gefahren sind. Bei einem dieser Konzerte hat zum Beispiel Jean Michel Jarre im Publikum gesessen und gesagt, sowas will ich auch machen, und ist damit super berühmt geworden.
Hansjörg Drauschke: Man kann vielleicht sogar noch weiter gehen. Wenn man sich zum Beispiel das französische Autorenkino der Zeit anschaut: Die Franzosen hatten anscheinend ein viel offeneres Ohr oder auch Herz für Avantgarde als die Deutschen. Und offensichtlich hat da die elektronische Musik gut reingepasst – woran das speziell lag, ist die Frage. Mir scheint, dass das avantgardistische Moment in der französischen Kultur der 70er Jahre wesentlich ausgeprägt war.
Sie hatten ja auch, wie wir den Stockhausen, Pierre Schaeffer, Pierre Henry, auch so experimentelle Musiker, die in Richtung Terry Riley usw. gingen. Und ich glaube, die waren auch populärer als Stockhausen bei uns.
Hansjörg Drauschke: Das ist eine interessante Frage, der könnte man nachgehen. Aber auf jeden Fall, Schulze ist in Frankreich immer gefeiert worden. Viel mehr als wahrscheinlich irgendwo sonst zu der Zeit in Europa. In Deutschland kam sein Kultstatus erst viel später.
Tori Wagner: Noch eine Frage zu seinem Arbeitsprozess im Studio. Wie lange dauerte eine Albumproduktion bei Klaus Schulze und mit wem hat er zusammengearbeitet? „Moondawn“ wurde beispielsweise sehr zügig aufgenommen. Er hat auch gesagt, dass ihm jeder Ton leidtue, den er wegschneiden müsse, und dass er die Bearbeitung gerne jemand anderem überließ.
Er hat teilweise Alben in einer Nacht eingespielt, in einem Schwung – erster Take schon gut, auf Platte gepresst und fertig. „Moondawn“, das du angesprochen hast, hat auch relativ schnell geklappt, obwohl sie da zu zweit gearbeitet haben, er hatte noch Harald Grosskopf als Drummer dabei. Das ist aber bei einer zum großen Teil improvisierten Musik einfacher. Wenn du bei einem Song einen falschen Akkord spielst, ist es falsch, dann musst du es nochmal neu spielen. Aber hier, okay – merkt keiner. [lacht] Das kann man als Improvisation immer durchgehen lassen. In späteren Jahren, das hat die Fans sehr geärgert, musste man teilweise drei, vier Jahre bis zum nächsten Album warten. Das lag aber ganz selten an ihm. Seine Alben waren immer relativ schnell fertig, aber die Plattenfirmen brauchten ewig, um sie zu produzieren und zu veröffentlichen. Und da hat, wie gesagt, der Künstler wenig Einfluss.
Max Groschke: Zurück zu „Ludwig“. Wir sind jetzt beim 10. Album, mit dem Titel „X“, das sehr erfolgreich war. Du schreibst: „Beim X liegt der Schatz vergraben“. [lacht]
Wer kennt das Zitat? – „Indiana Jones“. Ich habe da ein bisschen mit meinen Titeln gespielt.
[Musik erklingt, „Ludwig II. von Bayern“ vom Album „X“]
Hier spielt er mit einem echten Orchester zusammen, dem Hessischen Rundfunksinfonieorchester. [Musik erklingt weiter] Da müssen die Streicher zum Beispiel ganz lange diese Töne halten.
Max Groschke: Kann man es als Teil von Klaus Schulzes Stil sehen, dass er trotz seiner elektronischen Orientierung immer wieder mit nicht-elektronischen Instrumenten zusammenarbeitet?
Er wollte auf jeden Fall vermeiden, dass man ihm nachsagt, er mache immer das Gleiche. Und er wollte verschiedene Ausdrucksmöglichkeiten. Nach einigen Solo-Alben hat er wieder Gastmusiker zugelassen, zum Beispiel einen Schlagzeuger oder einen Gitarristen. In diesem Fall hat er einen Cellisten namens Wolfgang Tiepold kennengelernt, und er liebte die Klangfarbe des Cellos. Das passt zu seiner Musik. Sie haben gemeinsam „X“ aufgenommen, mit einem kompletten Orchester. Ich glaube, einfach, um es mal auszuprobieren. Er hat danach so etwas in der Art nicht mehr gemacht. Leider. Aber er hat noch oft mit Tiepold zusammengearbeitet, also Cello und andere Streicher dazu genommen, manchmal auch Sänger. Arthur Brown ist vielleicht so ein Begriff, ein Blues-Sänger aus den Siebzigern. Der hat einmal ein langes Stück für ihn eingesungen, „Shadows of Ignorance“ auf dem Album „Dune“. In neuerer Zeit hat er mit Lisa Gerrard zusammengearbeitet, die in einer Fantasie-Sprache singt. Da geht es mehr um den Klang der Stimme.
Tori Wagner: Schulze hat einmal gesagt, ihm fehlt, dass der „Muff rausgeblasen“ wird, dass es frischer wird. Möglicherweise hat er, um frisch zu bleiben, Dinge anders gemacht oder ist Zusammenarbeiten eingegangen, die bei den Fans nicht immer gut ankamen, die den „echten“ Klaus Schulze erleben wollten.
Es ist witzig, dass manche sagen, Klaus Schulze macht immer das Gleiche. Wenn man sich „Irrlicht“ anhört und ein Album von heute – das ist wie Tag und Nacht, hat nichts miteinander zu tun. Das eine ist dunkelstes Drone, haben wir ja eben gehört, und seine neuere Musik geht mehr in Richtung Chill-Out, rhythmische Sachen. Ob er das mit „Muff“ meinte, weiß ich nicht. Ich glaube, er meinte, dass die heutige Elektronikszene dazu neigt, nur nachzumachen, was die in den 70ern gemacht haben. Das fand er todlangweilig. Die krassen Techno-Sachen fand er zum Beispiel wieder interessant. Da kam eine Generation, die elektronische Musik machte. Denen war völlig wurscht, was die in den 70ern gemacht haben, die kannten die gar nicht. Die haben einfach auch, so wie er früher, am Synthesizer rumprobiert, irgendwas eingestellt, geiler Rhythmus und so und dann shouten wir irgendwas drüber und dann haben wir ein geiles Techno-Stück. Das fand er irgendwie echter. Hatte mehr Authentizität als Leute, die nur nachgespielt und versucht haben, Dinge nachzumachen, die er früher gemacht hat.
Hansjörg Drauschke: Noch zwei Fragen. Erst mal zu dem Stück, das wir gerade gehört haben. Ist das Orchester nachträglich bearbeitet worden? Manche Klänge schienen mir so fahl – oder sie haben das extrem gespielt. Weißt du das?
Gerade bei dem Stück finde ich es sehr schwer, zu sagen, das ist vom Orchester und das kommt von einem Synthesizer. Das verschwimmt, finde ich, hier sehr. Ich weiß es nicht genau.
Hansjörg Drauschke: Die andere Sache: Zusammenarbeit mit klassischen Orchestern. In den Siebzigern haben das eine ganze Menge Leute gemacht. Eberhard Schoener hat ähnlich wie Klaus Schulze mit Synthesizer und Orchester gearbeitet. Dann gab es aber auch bedeutende Bands, Procol Harum, Deep Purple, die in den 70ern mit Orchester getourt sind. Das hat mich erstaunt. Ich assoziiere das eher mit der Jetztzeit. Es war damals offenbar in Mode. Ist das bei Klaus Schulze auch ein Reflex dieser Modeerscheinung?
Viele von diesen Rock Acts haben auch mal eine Sinfonie komponiert, Sinfonie plus Rockband, Crossover sozusagen. Aber die wollten, glaube ich, bewusst ein bisschen in die E-Musik-Ecke kommen, raus aus dem „Wir sind nur eine Rockband“. Das empfanden viele als Einschränkung. Und John Lord, der Organist von Deep Purple, der eine klassische Ausbildung hatte, wollte vielleicht auch zeigen, was er kann. Also die klassisch ausgebildeten Musiker, die von sich überzeugen wollten – wobei die sehr over-the-top gegangen sind und das Gegenteil damit erzeugt haben. Aber ich kann mir auch vorstellen, dass Klaus zeigen wollte, dass das eher klassische Musik ist, was er macht, und keine Popmusik im engeren Sinne. Die Produktion von so einem Doppelalbum mit Orchester muss unheimlich teuer gewesen sein. Darum hat er das auch nicht wieder gemacht. Er hat auch mal eine „Stahlsinfonie“ aufgeführt, gibt es sogar einen Film zu. Da hat er in einem Stahlwerk gespielt, in Kombination mit Klängen aus diesem Stahlwerk. Man sieht Hämmer, die auf irgendwelche Stücke einhauen, das geht in die Musik über. Das war sehr avantgardistisch. Ich glaube nicht, dass er da bewusst gesagt hat, ich will jetzt das und das erreichen. Aber er war allen möglichen Sachen gegenüber offen und hat ausprobiert – wenn es nicht klappt, dann nicht. Er hat sogar eine Oper geschrieben – ein super Flop. Da gehen wir hoffentlich heute nicht drauf ein. [lacht]
Tori Wagner: Ich habe gelesen, dass 2005 sein Markenzeichen, der Big Moog, versteigert wurde. Symbolisierte das sein verstärktes Zurückziehen von der Bühne?
Er hatte tatsächlich eine Phase, wo er total auf digital umgestiegen war und die ganzen analogen Geräte nur Platz wegnahmen. Die hat er dann verkauft oder verschenkt. Ich glaube, er war auch überrascht, dass es in jüngster Zeit so ein Revival der analogen Synthesizer gab. Es ist halt unsexy, mit einem Laptop auf der Bühne zu stehen und Musik zu machen – so ein Keyboard oder Synthesizer, das sieht dann doch mehr nach Musiker aus.
Max Groschke: Wir wollen noch zum Begriff „Krautrock“ kommen. Schulze selbst hielt nicht viel von Labels: „Musik ist Musik. Das soll auch so bleiben, find’ ich. Und frei von Labels, Etiketten oder Schubladen, wie man das nennt“. Hat er seine Musik eingeordnet? Und wenn ja, wie? Hat er sich selbst als Krautrocker gesehen, gerade in seinen Anfängen?
Ihr habt euch ja sicher schon mehrere Definitionen von „Krautrock“ überlegt und besprochen. Wenn man die Künstler und Bands nehmen würde, die selbst von sich behaupten, dass sie „Krautrock“ machen – dann gäbe es, glaube ich, nur eine Handvoll. Fast keiner von denen, die wir da zuordnen, sagt: „Ja, wir sind ,Krautrock‘“. Klaus ist dadurch, dass er eher eine eigene Sparte für sich ist, noch weiter raus aus diesem „Rock“. Mit Rockmusik verbindet man ja Schlagzeug, Gitarre, Bass usw. Trotzdem gibt es natürlich jede Menge Schnittpunkte, auch was Klaus betrifft. Aber wie alle anderen Künstler auch, hat er sich ungern in eine Schublade stecken lassen. Und wenn er von seiner Musik sprach, dann immer nur von elektronischer Musik. Er fand charmant, was die Franzosen meinten mit „musique planante“ – schwebende Musik. Und ein Begriff, der immer ein bisschen vergessen wird, ist „Picture Music“. Eines seiner Alben heißt so. Und im Grunde ist es genau das. Es ist Musik, wo man sich selbst einen Film dazu denkt, eine weite Ebene sieht oder einen Sonnenaufgang oder einen Mondaufgang – „Moondawn“. Das ist jedem selbst überlassen.
Wenn du mich fragst, was Krautrock ist – Krautrock ist ja ein witziger Begriff dahingehend, dass er fast von allen, die da zugeordnet werden, abgelehnt wird. Das gibt es, glaube ich, bei keinem anderen Begriff. Das liegt einfach daran, dass der Begriff nicht aus der Szene selbst kam, sondern von den Engländern erfunden und erst mal abwertend gebraucht wurde. Aus heutiger Sicht finde ich den Begriff brillant. Man kann mit einem einzigen Wort ein unfassbar komplexes Musikgebilde darstellen. Sonst müsste man, statt dieses sexy Wort zu nehmen, „experimentelle Popmusik aus den späten 60ern bis 70ern“ oder so sagen. Es wäre natürlich cool gewesen, wenn die damals, als dieser Begriff kam, gekontert hätten mit einem besseren Begriff. Es gibt natürlich „Deutschrock“. Damit verbinden wir aber so was wie Grönemeyer oder Westernhagen – also deutsche Rock- und Popmusik. Ihr kennt ja J-Pop oder K-Pop, japanischer Pop und koreanischer Pop, die haben einfach den Landes-Buchstaben genommen. Bei uns wäre das dann D-Rock oder G-Rock, German-Rock, geworden. Hätte ich mir auch vorstellen können, aber hatte damals halt keiner die Idee. Heutzutage ist es einfach nur ein Begriff, um die Musik, die abseits des Mainstreams in den Siebzigern gemacht wurde, zu betiteln. Klar, Stilelemente: lange, ausgedehnte Improvisationen, kein unbedingtes Song-Format und auch oft instrumental. So würde ich das für mich selbst definieren. Aber da fallen teilweise auch Liedermacher drunter oder Ton Steine Scherben, politischer Song und solche Sachen werden teilweise zu Krautrock sortiert. Klaus Schulze findet man im Musikregal zwischen Schlager und Pop und Rock und überall. Da wissen die Leute bis heute nicht, wo sie ihn hinstellen sollen.
Tori Wagner: Eine letzte Frage. Ecki Stieg sagt im Nachruf: „Schulze spielen kann nur Schulze. […] Die Zutaten mögen bekannt sein, aber es ist die Kombination, das Rezept, das den wahren Künstler ausmacht.“ Stimmst du da zu, dass es unmöglich ist, Schulze zu kopieren?
Ich kenne viele, die elektronische Musik machen. Es hat noch keiner geschafft, genauso wie Klaus Schulze zu klingen. Manchmal schafft es einer, dass es ein bisschen so klingt. Aber da muss noch eine geheime Zutat sein, ein Zaubertrank, den er hatte, den keiner so richtig herausgefunden hat. Man muss auch bedenken: das erste Album „Irrlicht“ ist nicht mehr reproduzierbar. Zur meisten Musik gibt es Noten, Akkorde oder Texte, Lyrics, die kannst du nachspielen und lernen. Klassische Musik ist als Noten verfügbar. „Irrlicht“ kann man sich nur anhören, aber man kann es nicht mehr reproduzieren. Das ist eine für sich stehende Musik, weil es die Instrumente, die er dafür benutzt hat, gar nicht gibt. Du kannst keine kaputte Orgel finden, die genauso klingt, wie seine kaputte Orgel klang. Du weißt auch nicht, wie er die Tonbandaufnahme verfremdet hat, weil er das nicht dokumentiert hat. Das ist Musik, die kann man sich anhören in dem Bewusstsein, das kann man nicht nachspielen. Und das würde ich sogar für die ersten drei, vier Alben von ihm behaupten, weil auch die ganz alten Synthesizer teilweise gar nicht mehr vorhanden oder aufzutreiben sind. Und man weiß auch nie genau, wie er das miteinander kombiniert hat. Das ist bei modernerer elektronischer Musik einfacher. Ein Freund von mir macht solche Musik. Der kann gar nichts mehr hören, ohne sofort zu denken: „Ah, das ist der und der Synthesizer mit dem und dem Preset“. Der kann die Musik nicht mehr genießen, weil er weiß, wie sie erzeugt wird. Das finde ich schade. Darum habe ich mich selbst auch nie so sehr mit Synthesizern beschäftigt. Ich will eigentlich gar nicht so genau wissen, wie das gemacht wird, sondern ich möchte viel lieber die Musik unvoreingenommen hören.
Im Vorgespräch haben wir über die Filmmusik von „Body Love“ gesprochen. Dafür haben wir jetzt keine Zeit mehr. Vielleicht noch ganz kurz: Klaus hat mal die Filmmusik zu einem Pornofilm gemacht, namens „Body Love“. Das ist eines seiner populärsten Alben geworden, und da hat man gesagt: „Wie kannst du denn für einen Pornofilm Musik machen?“. Der Witz war, Regisseur Lasse Braun hat „Moondawn“ nebenbei laufen lassen, während die Schauspieler zugange waren. Die haben zu Klaus-Schulze-Rhythmen kopuliert. Da kam er auf die Idee, ob Klaus nicht einen Soundtrack machen kann, und Klaus hat gesagt: „Warum nicht?“. Ich habe den Fehler gemacht, mir den Film anzugucken und habe mir dadurch ein bisschen den Genuss der Musik kaputt gemacht. Ich kann sie jetzt nicht mehr hören, ohne diese Darsteller im Kopf zu haben. Da ist es manchmal vielleicht schöner, wenn man sich seinen eigenen Film macht als den konkreten „Hoppel-Western“ im Kopf zu haben.
Tori Wagner: Vielen Dank für die Beantwortung der Fragen. Es war sehr interessant.
Danke für eure Aufmerksamkeit – hat Spaß gemacht. Könnte noch stundenlang weitergehen.
Kommentare
Michael Möller-Wilkens am 15.04.2023 11:51
Großartiges Interview!
Entspricht ganz dem Text des erwähnten Buches von Olaf Lux!
Es sollte der elektronischen Musik in den Studiengängen deutlich mehr Raum in den Semestern gegeben werden, als es derzeit noch leider der Fall ist. Elektronische Musik in all ihren spezifischen Entwicklungen, sowohl in technischer, als auch in medialer & gestalterischer, sprich: kompositorischer Hinsicht, ist zwischenzeitlich so wichtig, vielfältig und umfassend geworden, dass ihre Urväter (zu denen Klaus Schulze unzweifelhaft gehört!) unbedingt in die Studiengänge von ALLEN Musikhochschulen in Deutschland eingeführt werden sollte. Verständnis- & Erkenntniserweiterung ist hier das Hauptwort für die jungen Studierenden.
Die Einladung sowie der gesamte Beitrag von Olaf Lux in Halle ist da ein hoffnungsvoller Anfang.
Weiter so!
Beste Grüße aus Lübeck -
Michael Möller-Wilkens
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