Wertvolle Freundschaftsbeweise: ULB zeigt Stammbücher
Fast könnte man Dr. Walter Müller in den Wochen vor der großen Ausstellung hallescher Stammbücher um sein Problem beneiden: „Es sind so viele schöne Seiten dabei, dass es mir sehr schwerfällt, nur 120 Bilder auszuwählen“, sagt der Bibliothekar. Zum Beweis schlägt er eines der kleinen, querformatigen Bücher auf: Das Bild der Burg Giebichenstein im Abendrot leuchtet einem dort entgegen – in Farben so intensiv, als wären sie erst in der vergangenen Woche aufgetragen worden. Dabei stammt der handkolorierte Kupferstich aus der Zeit um 1780 und ist durch unzählige Studentenhände gewandert. „In den Büchern waren die Einträge über Jahrhunderte oftmals sehr gut geschützt“, erzählt Müller.
Die Stammbücher waren klein genug, dass sie in die weiten Manteltaschen der Studenten passten. Zur Zeit der Reformation kamen sie allmählich als Freundschaftsbeweis in Mode. Bald sammelten die Studenten nicht nur die Einträge von Kommilitonen, sondern ließen auch ihre Professoren in die Alben schreiben. „So konnte man nachweisen: Ich habe bei diesem und jenem Professor gelernt. Das war eine Art berufliche Empfehlung“, so Müller.
Die Gestaltungen reichen von Denksprüchen damals zeitgenössischer Autoren, wie Goethe oder Schiller, über Kupferstiche bis hin zu liebevoll handgezeichneten Skizzen, Aquarellen, Gouachen und Scherenschnitten, auf denen Ansichten von Halle, gemeinsame Ausflüge, Liebeleien und andere prägende Erlebnisse aus der Studienzeit zu sehen sind. Eine ganze Industrie entwickelte sich rund um die Bücher. Nicht allein die Buchbindereien verdienten am Verkauf der oftmals edlen Alben. „Es gab auch Kupferstecher und Zeichenlehrer, die sich dafür bezahlen ließen, kleine Kunstwerke auf die Seiten zu bringen“, berichtet Walter Müller.
Und jedes einzelne Stammbuch ist ein Unikat. „Manche enthalten sogar einmalige Aquarelle mit Stadtansichten, die noch nirgendwo sonst aufgetaucht sind – von der pfännerschaftlichen Saline oder von der Hirsch-Apotheke am Markt beispielsweise“, erzählt der Bibliothekar. Seit Jahrzehnten erwirbt die ULB hallesche Stammbücher, wenn diese aus Privatbesitz oder Sammlungsverkäufen auf Auktionen auftauchen. „Die Bücher sind heute wertvolles Kulturgut und liefern uns Aufschluss über bedeutende Persönlichkeiten des Landes“, so Müller.
Bis 2016 hatte die ULB bei Aktionen allerdings oft keine Chance: Regelmäßig wurde sie von Dr. Hans Stula überboten, einem gebürtigen Hallenser und Sachverständigen für Kunst, der sich auf hallesche Memorabilia spezialisiert hatte. Stula, der kurzzeitig auch an der Universität Halle studiert hatte, bevor er 1958 aus der DDR nach Hannover ausreiste, kaufte 50 Jahre lang die Bücher auf und besaß bald die weltgrößte Stammbücher-Sammlung in Privatbesitz. Im November 2016 kehrten diese Exponate schließlich an den Ort ihrer Entstehung zurück. Der mittlerweile 77-jährige Stula verkaufte seine Sammlung an die ULB, die ihren eigenen Stammbücher-Bestand dadurch nahezu verdoppeln konnte.
Rund ein Jahr später werden die Highlights dieser Sammlung jetzt vom 17. November bis zum 14. Januar 2018 in den Räumen des Halloren- und Salinemuseums zu sehen sein. „Dabei konzentrieren wir uns auf die Spitzenstücke von Hans Stula und zeigen zusätzlich einige Exemplare aus dem Besitz der ULB, um die Geschichte unserer eigenen Sammlung zu erzählen“, sagt Müller. Autographen wichtiger Hallenser wie August Hermann Francke und Christian Wolff sowie noch nie zuvor gezeigte Ansichten Halles aus dem 18. und 19. Jahrhundert sind unter den Ausstellungsstücken.
Mehrfach hat Müller in Vorbereitung auf die Ausstellung die 240 Exemplare im ULB-Besitz durchgeblättert und dabei immer wieder Überraschendes entdeckt. Als besonders wertvoll erwies sich das Stammbuch des Studenten und späteren Superintendenten Karl Friedrich Ferdinand Tiebel. Denn zu Tiebels engsten Freunden gehörte der Pädagoge Friedrich Ludwig Jahn, auch „Turnvater Jahn“ genannt. Auf fünf Seiten erinnert sich Jahn an gemeinsame Ausflüge in die Dölauer Heide, zum Petersberg oder nach Passendorf. Auch die gemeinsame Lektüre und Alkohol-Exzesse beschreibt er in vertraulichem Ton.
„Bislang gab es keine Zeugnisse aus Jahns Studienzeit – alles, was darüber bekannt war, stammt aus Texten, die rückblickend verfasst worden sind. Aber jetzt wissen wir, was er in Halle gemacht hat“, sagt Müller, der sich für die Forschung noch mehr verspricht. „Für die Kulturgeschichte und natürlich auch für die Geschichte unserer Universität ist das ein einmaliger Quellenschatz, der noch viele Jahre lang aufzuarbeiten und auszuwerten sein wird.“
Informationen zur Ausstellung:
Die Ausstellung „Nicht zum Fressen, nicht zum Saufen, sondern Weisheit einzukaufen…“ ist ab 17. November 2017 im Halloren- und Salinemuseum in der Mansfelder Straße 52 in Halle, jeweils dienstags bis sonntags von 10 und 17 Uhr zu sehen.