Wissenschaft, Sport, Wirtschaft: Die Erfolgswege von Dorothee Kern
Es ist später Nachmittag auf dem halleschen Universitätsplatz. Auf einem Fahrrad, das noch aus ihrer Studienzeit in den 80er Jahren stammt, dreht Dorothee Kern beim Fototermin ein paar Runden auf dem Campus. Als sie gebeten wird, das Tempo zu drosseln, lacht die Wissenschaftlerin. „Langsam fahren“, sagt sie dann, „das geht bei mir normalerweise auch nicht.“ Tatsächlich steht ihre Karriere für alles andere als Gemächlichkeit. Kern ist nicht nur erfolgreiche Sportlerin – sie war Mitglied der deutschen Basketball-Nationalmannschaft –, sondern auch eine herausragende Wissenschaftlerin. Im vergangenen Jahr erst ist die Forscherin, verheiratet und Mutter zweier Töchter, in die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina aufgenommen worden.
In ihrer Wahlheimat USA hatte Kern zwei Jahre zuvor noch mit einer Firmengründung Schlagzeilen gemacht: 65 Millionen Dollar konnten für das Biotechnologie-Unternehmen „Relay Therapeutics“ eingeworben werden, zu dessen Gründern sie gehört. Aus der Summe, erzählt Kern bei ihrem Halle-Besuch begeistert, sind inzwischen rund 520 Millionen Dollar geworden. „Jetzt haben wir Zeit, mehrere Wirkstoffkandidaten hoffentlich bis zum Medikament zu entwickeln“, sagt sie – neben Krebsmitteln auch solche gegen neurologische und Immunkrankheiten. Die heute 95 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Unternehmens verfolgen dabei neue Ansätze. Dazu gehört ganz zentral die Nutzung der Proteindynamik, seit langem ein Schwerpunkt von Kerns wissenschaftlicher Arbeit.
„Dass die dynamischen Bewegungen des Proteins essentiell sind sowohl für die natürliche Proteinfunktionen als auch für die Funktion der Wirkstoffe, haben wir in meinem Labor nachgewiesen“, erklärt die Forscherin. Jetzt werde versucht, dieses Wissen gezielt für bessere Medikamente zu nutzen. Ein Beispiel für den neuen Ansatz: Die Wirkstoffe binden nicht mehr im aktiven Zentrum eines Proteins, sondern an einem das Protein umspannenden Informationsnetzwerk, dem so genannten Regulationszentrum. „Das kann auf jedes Protein angewendet werden“, so Kern, und sei zu 100 Prozent spezifisch. „Es gibt keine Bindung an gesunde Proteine mehr.“ Was letztlich bedeutet: Die Nebenwirkungen der Medikamente werden geringer. „Die Grundlagenforschung eröffnet völlig neue Wege“, betont die Wissenschaftlerin in diesem Zusammenhang – ein Plädoyer dafür, genau in sie Vertrauen zu stecken.
Ihre Wurzeln hat die Wahlamerikanerin in Halle. Den Grundstein ihrer wissenschaftlichen Karriere hat die Tochter der beiden MLU-Biochemiker Gertraude und Gerhard Hübner ebenfalls in der Saalestadt gelegt – wie übrigens auch ihre Brüder. Die Entscheidung fiel nicht nur wegen der sportlichen Karriere in Halle auf die Martin-Luther-Universität – damals war Kern unter dem Namen Hübner schon in der Basketball-Nationalmannschaft und mit ihrem Heimatverein KPV 69 Halle mehrfache deutsche Meisterin. „Die Uni hatte den besten Ruf in den Naturwissenschaften“, erinnert sich die Forscherin, die der Themenvielfalt halber Biochemie wählte. „Mich haben sehr viele wissenschaftliche Gebiete interessiert: Chemie, Physik, Mathematik, Biologie. Und ich wollte mich mit 18 noch nicht entscheiden“, sagt sie. Wenn die 53-Jährige heute an ihre Studienzeit zurückdenkt, dann nicht nur an Tanzabende und viele Treffen mit Kommilitonen anderer Fakultäten – „Halle war für mich die schönste Studentenstadt“ –, sondern vor allem auch an fachliche Grundlagen, die ihr bis heute wichtig sind. „Hier gab es eine extrem hohe Qualität der Lehre, super gute Professoren, die didaktisch gut erklärt haben“, schwärmt sie. „Auf diesen Grundlagen mache ich heute noch Wissenschaft.“ Kern verweist auf eine ihrer jüngsten großen Publikationen, die sich mit der Evolution der Enzyme und deren Anpassung an Temperaturen in den vergangenen 3,5 Milliarden Jahren befasst. In ihr hat sie eine neue Theorie entwickelt. „Der Knackpunkt, um das Puzzle zu lösen, war eine Vorlesung in der Biophysik, als ich 19, 20 Jahre alt war.“ Das sorge bei ihr noch immer für Gänsehaut.
Ins Ausland hat es Kern dennoch schon früh im Verlauf ihrer Karriere gezogen. Die Experimente für ihre Promotion an der MLU hat sie in Lund, Schweden gemacht. 1995 ging sie in die USA, zunächst an die University of California in Berkeley, drei Jahre später an die Brandeis University in Waltham, Massachusetts. Die Arbeit in den Vereinigten Staaten empfindet Kern als extrem dynamisch und weniger hierarchisch, wenn auch aus finanziellen Aspekten schwieriger als in Deutschland – zumindest in der akademischen Forschung. Dorothee Kern hat sich behauptet – in vielerlei Hinsicht. Dem Dorothea-Erxleben-Preis für ihre Dissertation an der MLU etwa sind bis heute einige weitere gefolgt. Zu den größten in den USA zählt sie den „Howard Hughes Medical Institute Investigator“ (2005 bis heute), den „National Lecturer“ der Biophysical Society (2009) und den „Pfizer Award in Enzyme Chemistry“ (2003). Die Preise sind für sie nicht nur Anerkennung ihrer Arbeit. Kern zählt auf, warum sie ihr insbesondere wichtig sind: Den „Pfizer Award“ habe zum Beispiel schon ihr großes Vorbild William Jencks, ein bedeutender US-amerikanischer Enzymforscher, erhalten. Beim „National Lecturer“ konnte sie einen Vortrag vor 8.000 Wissenschaftlern halten. Und für sie das Wichtigste: Mit der wissenschaftlichen Anerkennung im Rücken, glaubt Kern, die sich selbst als unkonventionell und als Rebellin sieht, verleihe sie ihrem Rat an junge Wissenschaftler mehr Wert. Der lautet: Seid, wie ihr seid, denkt „outside of the box“, ihr müsst euch nicht in Schemen pressen.
Der Sport gehört unterdessen bis heute ebenso zu ihrem Leben wie die Wissenschaft – und nicht nur zu ihrem: Tochter Nadja hat College Basketball in San Diego gespielt (und Biochemie studiert), Tochter Julia ist erfolgreiche Skilangläuferin. Die US-Meisterin ist Mitglied der Nationalmannschaft, hat bei der diesjährigen Nordischen Ski-Weltmeisterschaft in Seefeld den 23. Platz im Sprint, den 19. Rang im Skiathlon und den fünften Platz mit der Staffel belegt. Dorothee Kern indes spielt heute noch fast jeden Tag Basketball, in Männerteams mit Studierenden und Uni-Angestellten oder in Sportclubs. „Da geht’s ganz schön rund“, sagt sie lachend. Ende Juli geht es nach Finnland mit ihren deutschen Teamkollegen zur Basketballweltmeisterschaft der Masters, ihre Mannschaft ist schon Welt- und Europameister geworden. Zudem ist die Biophysikerin als Jugendtrainerin aktiv, derzeit für Skilanglauf, zuvor lange auch für Basketball und Leichtathletik. Wissenschaft und Sport haben für sie viele Parallelen, betont die Professorin. Leidenschaft, Effizienz, hohe Qualität und Schnelligkeit zählt sie dazu. Ehrgeiz. Und: Es gehe immer um Teamkonzepte. „Man kann auch in der Wissenschaft nichts mehr alleine machen.“
Per Skype und Telefon hält Kern den Kontakt zur Familie in Halle. Drei, vier Mal im Jahr ist sie auch in Deutschland – ihren jüngsten Besuch hat sie nicht nur mit einem Basketball-Turnier bei ihrem Heimatverein, sondern auch einem Vortrag bei einer Veranstaltung der Evangelischen Hochschulgruppe verbunden. Hält sie auch eine Rückkehr für möglich? „Ich plane nie länger als ein Jahr voraus“, sagt die 53-Jährige. Und: „Ich sage nie nie. Es ist doch das schöne im Leben, dass man nicht alles schon vorher weiß.“