Abriebe von Grabplatten: Zwei Lebenswerke für die Wissenschaft
Das Prinzip ist mit einer Münze, die wahrscheinlich jeder schon einmal mit einem Bleistift auf ein Blatt Papier durchgerieben hat, schnell erklärt. Die Ausmaße allerdings, von denen bei den neuen Sammlungen an der halleschen Universität die Rede ist, sind ganz andere. Sein größtes Werk, sagte Reinhard Lamp, ist 2,30 Meter breit und mehr als drei Meter hoch. Sieben Tage lang hat er in Lübeck jeweils sechs Stunden an ihm gearbeitet. Eine durchaus anstrengende Tätigkeit: Beim Brass Rubbing – so nennt man die Technik für Abriebe von metallenen Grabplatten auf riesige Papierbögen – gilt es, flächendeckend die gleiche Kraft anzuwenden. Dafür ist jahrelanges Training nötig. Lamp und der Londoner Kevin Herring, heute beide im Rentenalter, haben dies durchaus: Der Hamburger entwickelte seine Leidenschaft für das Brass Rubbing als Student während einer England-Radtour, der Brite Herring hat sie schon als Siebenjähriger quasi von seinem Vater geerbt. Ihren Ursprung hat diese Art der Dokumentation im England des 18. und 19. Jahrhunderts, als die lange vernachlässigten Messing-Grabmäler in den Kirchen neu entdeckt wurden.
Rund 600 Abriebe von Grabplatten aus Messing, aber auch aus Stein haben die beiden Freunde in den vergangenen Jahrzehnten in England, Deutschland und den Niederlanden angefertigt. Lamp hat dabei auch mit selbst hergestellten farbigen Wachsstiften gearbeitet. Am Dienstag nun haben die beiden Forscher, die unter anderem schon im Naumburger Dom ausgestellt haben, ihre Privatsammlungen offiziell der halleschen Universität vermacht. „Uns beschlich beide die Sorge darum, was nach unserem Tod mit unseren Werken geschehen würde“, schilderte Lamp den Ausgangspunkt dafür. Das sei zu einer echten Qual geworden. Die Monumental Brass Society in London, die über eine der bedeutendsten Sammlungen der Welt verfügt, habe auf seine Anfrage zögerlich reagiert, weil er entgegen britischer Standards nicht nur mit schwarzem Wachs arbeitet. Und Archive in England würden Abriebe aus Platzmangel falten - „eine Horrorvorstellung für mich“, sagte Lamp. So vertraute er sich Prof. Dr. Klaus Krüger an. Der Leiter der Abteilung für Historische Hilfswissenschaften am Institut für Geschichte der halleschen Uni beschäftigt sich selbst seit vielen Jahren mit Grabplatten, hat bereits Ausstellungen der beiden Sammler begleitet. Als es jetzt tatsächlich so weit war, sich von den Werken zu trennen, habe das zwar schon wehgetan, sagte Reinhard Lamp. Er ergänzte nach einem Besuch des halleschen Archivs Anfang dieser Woche aber auch: „In den wildesten Träumen hätte ich mir nicht vorgestellt, was alles getan wurde und getan wird, um unsere Schätze zu retten.“
Außerhalb Großbritanniens, wo es Sammlungen mit jeweils tausenden Objekten gibt, existieren derzeit nur rund 200 Brass Rubbings umfassende Sammlungen in Belgien und kleinere Privatarchive in Polen. Die hallesche ist damit nun die größte auf europäischem Festland. Archivleiter Dr. Michael Ruprecht sprach von zwei Lebenswerken, die die Universität übernehme – nicht nur für das Magazin, sondern auch, um sie für Wissenschaft, Forschung und Lehre zu nutzen. „Wir haben jetzt 42 akademische Sammlungen“, sagte er. Die meisten davon gingen auf Schenkungen zurück. Die jetzigen sind zwei Jahre lang vorbereitet worden, unter anderem haben die Sammler die Werke akribisch genau gekennzeichnet.
Schätzungsweise existieren heute nur noch fünf Prozent der einst in Kirchen vorhandenen Grabplatten, sagte der hallesche Historiker Krüger. Umso wichtiger sei die Leistung der beiden Sammler, Darstellung und Text auf ihnen nicht nur zu beschreiben, sondern durch mühevoll erstellte Abriebe auch unmittelbar zugänglich machen. Diese seien zum Teil aufbereitetes historisches Quellenmaterial, zum anderen auch zeitgenössische Kunst. Mit ihrer Hilfe können in Halle nun unter anderem Inschriften studiert werden, ohne zu den Original-Grabmalen zu reisen, deren Oberfläche anzufeuchten und sie mit Scheinwerfern zu beleuchten. „Das erleichtert die Arbeit mit Studenten enorm“, so Krüger. Ein Forschungsschwerpunkt der Abteilung für Historische Hilfswissenschaften am Institut für Geschichte in Halle liegt auf der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Sepulkralkultur.
Die beiden Stifter arbeiten im Übrigen weiter an neuen Abrieben.