Anderthalb Tonnen wertvoller Akten: Humboldt-Preisträgerin holt Datenschatz nach Halle
Der klobige, graue Kasten auf dem Schreibtisch von Prof. Dr. Christina von Hodenberg atmet Geschichte. Es ist ein original erhaltenes Tonbandgerät, wie es in den 1960er Jahren üblich war, gebaut in den Münchner Uher-Werken, einem damals renommierten Hersteller hochwertiger Aufnahmetechnik. Das Gerät ist noch voll funktionstüchtig. Christina von Hodenberg braucht es für ihre Arbeit, denn es gehört zum Fundus der ältesten erhaltenen, umfangreichen deutschen Sammlung lebensgeschichtlicher Interviews, die sich seit kurzem im Historischen Datenzentrum Sachsen-Anhalt befindet.
Die Geschichte, wie die anderthalb Tonnen Aktenordner und 600 Tonbänder dorthin gelangt sind, ist ebenso spannend wie die Fakten zur Studie selbst. Schlüsselfigur in diesem nicht alltäglichen Recherche-Ereignis ist Christina von Hodenberg, ihres Zeichens Professorin für Geschichte an der Londoner Queen Mary University: Als die renommierte Sozialhistorikerin 2014 für ihr bisheriges Gesamtschaffen mit dem Alexander-von-Humboldt-Forschungspreis geehrt wurde, war damit nicht nur ein Preisgeld in Höhe von 60.000 Euro verbunden, sondern auch die Option, das Geld für ein Projekt an einer Hochschule eigener Wahl zu verwenden.
Nicht ohne Grund fiel diese auf die Martin-Luther-Universität. Denn im hiesigen Institut für Geschichte fand die Historikerin viele sozialwissenschaftlich forschende Kollegen. „Und überhaupt wollte ich ganz bewusst an eine ostdeutsche Hochschule“, sagt von Hodenberg, „auch um den heutigen Osten Deutschlands näher kennenzulernen“.
Seit September 2014 arbeitet sie nun im Institut für Geschichte an einem Projekt zum westdeutschen Generationenkonflikt der 1960er und 1970er Jahre. Neu ist vor allem ihr Ansatz: Bisher haben Historiker diese Zeit vor allem aus der Perspektive der jungen, protestbewegten ‚68er’ betrachtet. „Doch“, so von Hodenberg, „durch den Blick allein auf junge Leute lässt sich nicht erklären, wieso sich die ganze Gesellschaft damals so schnell gewandelt hat.“
3.000 Tonband-Stunden lagern jetzt in Halle
Bei ihrer Suche nach geeigneten Quellen stieß die 49-Jährige auf einen längst vernichtet geglaubten Datenschatz: Die so genannte Bonner Gerontologische Längsschnittstudie, kurz BOLSA genannt, die zwischen 1965 und 1981 entstand und seinerzeit wegweisend für die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Altern war. „Dass die zugehörigen Rohdaten noch fast vollständig vorhanden sind, ist eine kleine Sensation“, erzählt von Hodenberg, „denn üblicherweise wurde so etwas spätestens mit der Emeritierung des damit befassten Professors vernichtet.“
Dass es in diesem Fall anders lief, liegt an der Hartnäckigkeit eines Akteurs von damals. Der Heidelberger Psychologe Dr. Christoph Rott, Mitarbeiter der BOLSA-Initiatorin Prof. Ursula Lehr (die später übrigens Bundesfamilienministerin wurde), hatte seine Doktorarbeit über das Material geschrieben. Rott brachte es nicht übers Herz, sich von den Aktenbergen und den rund 3.000 Tonband-Stunden zu trennen. Jahr um Jahr setzte er sich gegen viele Widerstände durch. Nachdem von Hodenberg ihn kontaktiert hatte, stimmten auch Ursula Lehr und der Bonner Psychologie-Professor Georg Rudinger der dauerhaften Überstellung von Rohdaten und Akten nach Halle zu.
Als Teilnehmer für die BOLSA-Studie hatte man seinerzeit ganz bewusst nach Menschen aus der Unter- und Mittelschicht gesucht. Sie gaben Auskunft zu schwierigen Themen. Aspekte von Altern, Gesundheit, vom Umgang mit Krieg und Tod finden sich ebenso wie Schilderungen von Sexualität. „Die Studie ist auch für die heutige Wissenschaft noch interessant. Vor allem, weil sie unter vielen Aspekten ausgewertet werden kann“, sagt von Hodenberg.
Elfriede Bornschein geht online
Zu den Senioren, die damals befragt worden sind, gehört Elfriede Bornschein. Ihr Name ist zwar ein Pseudonym, ihre Geschichte, die auf einem der Tonbänder zu hören ist, scheint jedoch typisch für den damaligen Weg einer einfachen Frau. Sie berichtete über viele Dinge, die man zur Zeit der Interviews ungern öffentlich preisgab. Sie sprach über Zärtlichkeit, Abtreibungen, den Tod ihres Mannes, die Konflikte mit der Schwiegertochter, ihre Geldsorgen und ihre Frömmigkeit.
Aus diesen und anderen Schilderungen entstand eine Sammlung, die heutige Wissenschaftler für historische Forschungen auswerten können. Deshalb sollen die Daten nun digitalisiert werden. Um das zu realisieren, arbeitet die Humboldt-Forschungspreisträgerin mit Dr. Katrin Möller vom Historischen Datenzentrum Sachsen-Anhalt zusammen. Derzeit wird ein Antrag an die Deutsche Forschungsgemeinschaft formuliert.
Im September, so schätzt von Hodenberg, soll über die Mittelzuweisung entschieden werden. Dann wird sie zwar bereits wieder an der Londoner Queen Mary University lehren. „Aber ich werde regelmäßig zu Arbeitstreffen nach Halle kommen.“ - Eine Reise, die ihr nicht schwer fallen wird. Schließlich verbindet die gebürtige Krefelderin mit der Region Halle ein ganz persönlicher Aspekt: 1990 hielt sie sich als junge Wissenschaftlerin zur Recherche am damals noch in Merseburg ansässigen Archiv der Stiftungen Preußischer Kulturbesitz auf. Dort traf sie einen amerikanischen Germanisten. Er ist heute ihr Ehemann.