Auf Zeitreise im Erbgut
Gigantische Mammutbäume und winzige Wasserlinsen, dekorative Orchideen und unscheinbare Moospolster: Im Laufe von etwa einer Milliarde Jahren haben die Pflanzen der Erde eine gewaltige Vielfalt hervorgebracht. Botaniker kennen mehr als eine halbe Million Arten, die alle auf einen gemeinsamen Vorfahren zurückgehen. Wie aber konnte aus ein paar relativ einfach gestrickten Algen eine so große Palette von Individualisten mit den unterschiedlichsten Formen und Farben, Eigenheiten und Lebensstilen entstehen? Dieser Frage geht ein Team um Prof. Dr. Marcel Quint vom Institut für Agrar- und Ernährungswissenschaften und Prof. Dr. Ivo Große vom Institut für Informatik der MLU nach – und kommt dabei zu verblüffenden Antworten.
Jede Reise in die ferne Vergangenheit beginnt dabei im Erbgut heutiger Gewächse. „Wenn man die Evolution verstehen will, muss man die Genome der einzelnen Arten anschauen und miteinander vergleichen“, erklärt Ivo Große. Entscheidend ist dabei die Reihenfolge der DNA-Bausteine. Haben sich zwei Arten erst vor kurzem aufgespalten, sind sich diese Sequenzen noch sehr ähnlich. Hat der letzte gemeinsame Ahn dagegen schon vor langer Zeit gelebt, finden sich deutlich mehr Unterschiede.
Um solche Vergleiche durchführen zu können, braucht man allerdings erst einmal die Erbgut-Sequenzen von möglichst vielen Arten. Und da waren Botaniker lange Zeit klar im Nachteil. Denn ihre Untersuchungsobjekte haben ein besonders großes und komplexes Erbgut, das entsprechend aufwändig zu analysieren ist. „Während in den letzten zwanzig Jahren schon hunderte von tierischen Genomen sequenziert wurden, hinkte die Pflanzenforschung deshalb lange hinterher“, so Große.
Vor zehn Jahren haben rund 200 Fachleute aus aller Welt daher ein Mammut-Vorhaben namens „One Thousand Plant Transcriptomes Initiative“ ins Leben gerufen. Ziel war es, das Erbgut von mindestens tausend Arten zu sequenzieren, die über den gesamten Stammbaum der Pflanzen verteilt sind – von den ursprünglicheren Algen, Moosen und Farnen bis hin zu den hochentwickelten Blütenpflanzen. „Dabei wollten wir so effektiv wie möglich vorgehen“, sagt Marcel Quint. So muss man für viele Fragen der Evolutionsforschung nicht die gesamten Genome unter die Lupe nehmen. Es genügen jene Teile, in denen auch tatsächlich genetische Informationen stecken. Deshalb untersuchen die Forscher statt der DNA die RNA – also jene Abschrift der im Erbgut gespeicherten Baupläne, nach der die Organismen ihre Proteine produzieren.
Rund 1.500 dieser sogenannten Transkriptome haben Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Initiative inzwischen sequenziert. „Das ist ein Datenschatz, in dem noch viele ungelüftete Geheimnisse stecken“, sagt Bioinformatiker Große. Er und seine Kollegen aus Halle untersuchen in einem Teilprojekt die Evolution von Genfamilien. Sein Doktorand Martin Porsch hat kürzlich zum Beispiel nachgezeichnet, wie sich solche großen Gruppen von Genen mit ähnlicher Funktion quer durch den Stammbaum der Pflanzen entwickelt haben.
„Es gibt viele verschiedene dieser Genfamilien, von denen manche etliche hundert Mitglieder haben“, so Große. Wie diese familiäre Vielfalt zustande gekommen ist, können sich Botaniker schon recht gut vorstellen. Entscheidend ist dabei das Talent der Pflanzen, einzelne Gene oder sogar ihr ganzes Erbgut zu verdoppeln. Dabei entsteht immer wieder neues Spielmaterial für die Evolution. Denn diese Kopien können durch winzige Veränderungen eine neue Funktion annehmen, während das ursprüngliche Gen weiter nach bewährtem Muster funktioniert.
Der Blick ins Erbgut verrät, dass die Evolution bei diesen Duplikationen ziemlich sprunghaft vorgegangen ist: Mal tat sich lange Zeit kaum etwas, dann wieder kam es zu regelrechten Explosionen der genetischen Vielfalt. Wann letztere stattgefunden haben, glaubten Botaniker auch schon zu ahnen. „Es liegt ja nahe, dass besonders komplexe Organismen wie etwa die Blütenpflanzen auch besonders viele Gene haben“, sagt Marcel Quint. Viele Fachleute hatten daher angenommen, dass die Evolution kurz vor der Entstehung dieser Pflanzengruppe vor etwa 160 Millionen Jahren ein wahres Verdopplungs-Feuerwerk abgebrannt hat.
Stimmt aber gar nicht. „Viele dieser Duplikationen sind wesentlich älter und stammen noch aus der Zeit, als die ersten Pflanzen vor 500 Millionen Jahren das Wasser verlassen haben“, resümiert Quint die Ergebnisse der Studie, die als Titelgeschichte im Fachjournal „Nature“ veröffentlicht wurde. Das Verblüffende an dieser Erkenntnis ist, dass die Evolution damit einen großen Baukasten mit genetischem Material in die Hände bekam, einen großen Teil davon aber zunächst gar nicht nutzte. Die Pflanzen trugen Genfamilien in ihrem Erbgut, die erst Millionen Jahre später für die Entwicklung von Blüten, Samen oder Wurzeln wichtig werden sollten. „Das hat uns sehr überrascht, weil die Natur normalerweise keinen Ballast mit sich herumschleppt“, erklärt Quint. Alles, was keinen direkten Nutzen hat, verschlingt nur unnötig Energie und wird daher abgeschafft.
Warum das in diesem Fall anders war, können die Forscher noch nicht genau sagen. Wahrscheinlich hatten die Genfamilien, die heute für Blüten und andere moderne Erfindungen zuständig sind, früher eine andere Funktion. Und es ist durchaus möglich, dass sie in Zukunft wieder neue Aufgaben übernehmen werden. Im Erbgut der Pflanzen schlummert jede Menge Material, mit dem die Evolution weiterarbeiten kann. Das ist in Zeiten des Klimawandels und anderer Umweltveränderungen eine gute Nachricht. Denn Anpassungsfähigkeit ist gerade dringend gefragt. Umso wichtiger sei es, diese genetische Ressource zu schützen, betont Quint: „Mit jeder Art, die ausstirbt, gehen auch genetische Informationen verloren, die für die Zukunft vielleicht extrem wichtig wären.“
Prof. Dr. Marcel Quint
Institut für Agrar- und Ernährungswissenschaften
Tel. +49 345 55-22739
Mail: marcel.quint@landw.uni-halle.de
Prof. Dr. Ivo Große
Institut für Informatik
Tel. +49 345 55-24774
Mail: ivo.grosse@informatik.uni-halle.de
Kommentare
mario ojeda am 30.05.2020 21:24
merci
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