Aus dem Dienst entlassen, von der Universität vertrieben
Zum Beispiel Hans Rothmann. Jahrgang 1899, Internist, Jude. Er kommt 1927 als Stationsarzt an die Medizinische Universitätsklinik Halle. Er habilitiert sich 1930, erhält die Venia Legendi für das Lehrgebiet Innere Medizin. Im Mai 1933 lässt er sich beurlauben. Im September wird ihm vom Wissenschaftsministerium die Lehrbefugnis auf Basis des Paragrafen 3 des Berufsbeamtengesetzes, dem so genannten „Arier-Paragrafen“ entzogen. Im Oktober wird er per Erlass in den Ruhestand versetzt, im Dezember erhält er kein Geld mehr. Hans Rothmann gelingt es, in die USA zu emigrieren, dort kann er weiterhin als Arzt tätig sein. Er heiratet in San Francisco in eine angesehene jüdische Familie ein, wird Vater von drei Kindern. Dort stirbt er 1970.
Hans Rothmanns Biografie ist an einem Punkt identisch mit mindestens 42 anderen Lebensläufen hallescher Hochschullehrer. Sie wurden in den Jahren 1933 bis 1945 an der Universität Halle aus dem Dienst entlassen. Bekannt sind heute 41 Männer, zwei Frauen. Nicht alle trugen den Professoren-Titel. Der weit geachtete Hebräisch-Lektor Mojzis Woskin-Nahartabi, ermordet 1944 in Auschwitz, und der Assistenzarzt Georg Jacoby, der aus „rassenpolitischen Gründen“ gehen musste, stehen exemplarisch für eine nicht bekannte Anzahl an entlassenen Mitarbeitern und relegierten Studenten.
Auch die 1930 gegründete Pädagogische Akademie als Vorgängerin der Pädagogischen Hochschule, die 1993 in die Universität integriert wurde, hat die Projektgruppe berücksichtigt. Zum Beispiel mit der Biografie der renommierten Sozialpädagogin Elisabeth Blochmann, deren Mutter Jüdin war und die 1952 an der Universität Marburg wieder einen Lehrstuhl in der Pädagogik erhält.
Der umfangreiche Gedenkband, der diese Biografien erzählt und in vielen Bildern und Dokumenten greifbar macht, wählt sowohl einen wissenschaftshistorischen als auch einen persönlichen Zugang: „Wir haben manche dieser Menschen in die Erinnerung der Universität zurück geholt“, sagt Dr. Friedemann Stengel, der die von Rektor Prof. Dr. Udo Sträter eingesetzte Kommission leitet.
„Die Universität hat in der Zeit des NS-Regimes große Schuld auf sich geladen. Doch es ist nie zu spät, die Wahrheit zu recherchieren und sich den Ergebnissen und damit der Verantwortung zu stellen “, sagt Sträter. Das Erinnern an das Unrecht und die vertriebenen Hochschullehrer sei nicht nur notwendig, es sei auch ein Anfang für eine weitere Aufarbeitung der Geschichte.
Friedemann Stengel hat das Projekt gemeinsam mit Mitstreitern aus allen Bereichen der Universität umgesetzt – von den Juristen über die Mediziner bis hin zu den Germanisten sowie mit Kollegen aus der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina in Halle. Er und seine Mitstreiter erarbeiteten ganz bewusst keine abschließende Liste, die abgedruckt werden kann. Sie recherchierten akribisch die einzelnen Fälle, die Hintergründe, komplettierten die Lebensläufe, fanden Nachfahren, gaben den einstigen Hochschullehrern ihr Gesicht, ihre Lebensgeschichte zurück und setzten diese in Beziehung zum Hier und Jetzt. Eine offene Haltung, die weitere Recherchen in der Zukunft einfordert, aber auch den Zugang zu den Menschen, ihren Schicksalen ermöglicht.
Wie auch im Fall des Arztes Hans Rothmann. Im Zuge der Projektarbeit und mit Hilfe des Internets konnte erstmals rekonstruiert werden, wie sein Leben verlief. In den USA hat Friedemann Stengel heute Kontakt zu dessen Sohn John F. Rothmann, einem bekannten politischen Publizisten und Radiomoderator. Er stellte Dokumente und Bilder für das Projekt zur Verfügung. „Man kann das Unrecht der Vergangenheit nicht korrigieren, aber man kann und muss daran erinnern, was passiert ist“, sagt Rothmann. Es sei wichtig, nicht nur 43 Hochschullehrer identifiziert zu haben, sondern ebenso, den Kontakt zu deren Nachfahren herzustellen. Sein Vater habe niemals über das große Unrecht gesprochen, das ihm widerfahren sei.
Der Band erzählt die Geschichten, die erzählt werden müssen. Der Theologe Friedemann Stengel hat sich intensiv mit dem Theologen Günther Dehn befasst. Er ist einer der ersten Hochschullehrer überhaupt, die dem Berufsbeamtengesetz zum Opfer fallen. Dehn wird am 13. April 1933 beurlaubt, im November aus dem Staatsdienst entlassen. Er muss auf Basis des Paragrafen 4 gehen: aus politischen Gründen. Bereits seit seiner Berufung 1931 ist Dehn, ein kirchen- und kulturkritischer Theologe, Thema deutschlandweit geführter heftiger politischer Auseinandersetzungen.
Nach seiner Entlassung aus dem Dienst der Universität wird Dehn Mitglied der Bekennenden Kirche, arbeitet unter anderem an der illegalen Kirchlichen Hochschule in Berlin. 1941 bis 1942 wird er in Berlin inhaftiert. 1946 erhält er wieder eine Professur in Bonn. Für die Universität Halle ist die Aufarbeitung der Lebensgeschichte Dehns wichtig. Denn „als am 13. September 1947 auf Anordnung der Provinzialregierung Sachsen-Anhalts eine Gedenkfeier für die Verfolgten des Nazi-Regimes in der Aula der Universität stattfindet, wird neben anderen auch Dehns Name nicht erwähnt“, sagt Stengel.
So ist das Leben und die Rehabilitierung des Theologen Günther Dehn auch einer der Ausgangspunkte des Vorhabens. Friedemann Stengels intensive Arbeit an dem Thema mündet schließlich in das konkrete „Ausgeschlossen“-Projekt. „Es ist ein einmaliger Vorgang, so schnell so viele Mitstreiter zu finden, aus allen Bereichen der Universität“, sagt er. „Manche hatten dazu schon gearbeitet, sehr persönliche Zugänge gefunden.“
Zurückgreifen konnten die Wissenschaftler auf wichtige Materialien: Etwa die intensive Bearbeitung des Themas innerhalb der Juristischen Fakultät, die bereits in den 1990er Jahren mit einer Veranstaltung und einer Publikation der entlassenen Juristen gedachten oder der im Erscheinungsjahr 2002 beispiellosen Materialsammlung des Historikers Henrik Eberle „Die Martin-Luther-Universität in der Zeit des Nationalsozialismus 1933-1945“.
Auch Prof. Dr. Dr. Gunnar Berg, Rektor der Universität Halle von 1992 bis 1996, und heute Vizepräsident der Leopoldina, gehört zu den Unterstützern des Projekts. Bereits 1995 entschuldigte er sich in „tiefer Beschämung“ öffentlich für die von 1933 bis 1945 und im Anschluss bis 1990 begangenen unrechtmäßigen Degraduierungen von Wissenschaftlern, die an der Universität vorgenommen worden waren. Auf seinen Antrag hob der Senat diese Entscheidungen über den Entzug von akademischen Titeln auf. „In zwei Diktaturen ist Unrecht an der Universität geschehen. Dafür ist sie verantwortlich und sie muss alle Möglichkeiten nutzen, dieser Verantwortung gerecht zu werden“, sagt er.
Und John F. Rothmann ergänzt: „Was die Universität tut, ist wichtig. Ich möchte, dass meine Kinder wissen, was mit ihrem Großvater geschah, nur weil er ein Jude war. Ich möchte, dass sie verstehen, dass nicht nur seine Entlassung unrechtmäßig war, sondern dass das Schweigen seiner Kollegen an der Universität und das Schweigen jener Generation der Deutschen ein schrecklicher Teil dieser Tragödie gewesen ist.“
Mehr zum Projekt: Dr. Friedemann Stengel im Interview bei Radio Corax