„Bagdad wiederzusehen war ein Schock“
Wie so viele Intellektuelle stand er damals als regimekritischer Autor und Journalist auf der Schwarzen Liste des Diktatoren-Regime Saddam Husseins. Über den Schriftstellerverband durfte er 1979 in die damalige DDR einreisen. Nach seinem Studium und der Promotion an der Martin-Luther-Universität lehrt er seit 1988 als Dozent am Orientalischen Institut. Und er schreibt Gedichte mit dem Fleiß einer Biene. Seine Seele, die stets vom hin- und hergerissenen Herzen angetrieben wird, kann der Liebhaber arabischer Poesie am besten in Versen ausschütten. Mit funkelnden Augen erzählt er von Halle.
„Halle ist im Grunde ein arabischer Name, ich erzähle das immer meinen Studenten“, überrascht er. „Das Wort Halle bedeutet Helligkeit und ist bei uns ein beliebter Mädchenname.“ Doch es kommt noch besser. „Im Norden des Iraks“, erzählt er weiter, „gibt es einen Kurort mit einer heilenden Wasserquelle. Und wissen sie, wie diese heißt? Saale.“ Als er damals mit diesen Bildern im Kopf nach Halle kam, war die Stadt als graue Diva im Chemiedreieck wenig hell. Auch die Saale war da eher eine Enttäuschung.
„Es mag seltsam klingen, ich träumte vom Sozialismus. Ich hatte Armut und Unrecht erlebt“, sagt Hamid Jassim. Geboren als Sohn einer armen Bauernfamilie in der Provinz Karbala, nahe dem Euphrat, bestimmte harte Arbeit das Leben. Kindheit im glücklichen Sinne? – Fehlanzeige! Es herrschte Feudalherrschaft. „Ich musste als Kind mit ansehen, wie der Großgrundbesitzer meinen Vater auspeitschen ließ.“ Das war kein Leben. Man sah sich gezwungen, nach Bagdad umzuziehen. Vom Feudalismus rutschte man in den Kapitalismus. Beim Vater, der fortan als fliegender Händler arbeitete, musste er als Kind weiter mit anpacken. Arbeit ging immer vor.
Doch es sollte eine Weichenstellung geben, mit der sich Jassim vom vorgelebten Elend und vom allgegenwärtigen Analphabetismus befreien konnte. Mit sechs Jahren kam er auf eine Koranschule, wo er lesen und schreiben lernte. Hier entdeckte er auch das Buch, dass seine Phantasie und Vorliebe für Poesie anregte. Es war die Liebesgeschichte zwischen Paris und Helena aus der griechischen Mythologie der Ilias von Homer.
Wissen bereichert und macht gierig auf mehr. Bald kam es zum Bruch mit dem Vater. „Er lehnte es ab, mich auf eine staatliche Schule zu schicken. Doch ich wechselte ohne sein Wissen“, erzählt der Arabistik-Dozent. Es sollte ein Bruch für immer sein. Nie wieder sah er den Vater und war als Schüler der sechsten Klasse in allen Lebensbelangen auf sich allein gestellt. Mit Jobs habe er sich über Wasser gehalten, es gelang ihm auch, sein Studium der Literaturwissenschaft in der arabischen Sprache zu finanzieren.
Die Karriere war vorgezeichnet. Als Journalist der Bagdader Rundfunk- und Fernsehstation, als intellektueller Autor und Vorstandsmitglied im irakischen Schriftstellerverband begann er immer mehr, auch seine modernen politischen Ansichten in Tageszeitungen zu veröffentlichen. 1976 kam es zwischen Intellektuellen und den Politkern der Baath-Partei zum Eklat. „Fortan stand ich auf der Schwarzen Liste.“
Rückkehr nach 25 Jahren
Zurück zur DDR. „Ich habe hier nach meiner Ankunft schnell bemerkt, dass auch dieser Sozialismus nicht mein Traum ist. Ich bin aber dankbar für das Studium außerhalb des Iraks. Ich lernte dadurch, meine Kultur, die Geschichte meines Landes ganz anders zu betrachten“, sagt er. Erst 2004, nach 25 Jahren, war er wieder im Irak. „Bagdad wiederzusehen, war für mich ein Schock. Ich habe gespürt, dass ich meine Heimat für immer verloren habe“, sagt Hamid Jassim. Die Veränderungen durch das Regime, das Embargo und die sinnlosen Kriege waren fatal. Das Leben, das Bild der Stadt und der Geist der Menschen hätten sich im negativen Sinne verändert. Es gebe eine Rückkehr zur Religion, aber nicht im Sinne der Aufklärung.
„Als ich damals in Bagdad studierte, trug an der Uni kaum eine Studentin ein Kopftuch. Jetzt sind fast alle Frauen verschleiert. Ja, es ist ein gnadenlos strenger Glaube übers Land gezogen“, beschreibt er es düster. „Auch in eine der nobleren Gegenden, wo früher Sunniten, Schiiten, Christen zusammenlebten, sind die emanzipierten Menschen von früher verschwunden. Meine Frau war auf einmal die einzige, die ohne Kopftuch lief. Und es ist schon irgendwie komisch, als sie nach vier Tagen zu mir sagte: Hamid lass uns nachhause, nach Halle zurückkehren. Ich fühle mich hier fremd.“
Hamid Jassim fordert für seine Heimat geistige Modernisierung und Aufklärung, ebenso die Trennung zwischen Staat und Kirche. In einem arabischen Artikel schrieb er jüngst „Säkularisierung ist ein Gottesgeschenk für seine Religionen.“ Warum? Natürlich weil er seine Religionen damit vor der Vormundschaft des Klerus rettet. „Die Botschaft der Religion kann nur Menschlichkeit sein. Das gilt auch für den Islam.“ Und wenn er als Dozent heute mit Studenten spricht, versucht er die geschichtliche und kulturelle Entwicklung seiner Heimat stets in Kontext mit politischen und religiösen Erscheinungen zu stellen. Der Arabistik-Dozent drückt sich nicht vor Diskussionen.
Auch zum Thema Integration hat er eine klare Meinung. „Sie ist keine Vereinnahmung, keine Zerstörung der eigenen Identität. Wer das behauptet, liegt falsch. Die Begegnung mit einer anderen Kultur kann natürlich ein Schock sein. Dabei verliert man etwas, gewinnt aber auch etwas hinzu“, sagt er. Das größte Hindernis sei die Unwissenheit. Viele Auswanderer sind modern, gut ausgebildet und aufgeklärt - bei anderen, vor allem die aus ländlichen Gegenden kommen, sei das umgekehrt. Sie neigten in der Fremde gern dazu, sich Landsleute zu suchen und sich abzukapseln. „Ich würde mir wünschen, dass eine Bewegung in Schwung kommt, bei der moderne, aufgeklärtere Ausländer ihre weniger erfolgreicheren Landsleute auf dem Weg der Integration mitnehmen. Aber auch auf der anderen Seite muss man umdenken. Der Terrorismus hat alles schwieriger gemacht. Und ich habe Verständnis, dass unter einigen Deutschen die Neigung zu Vorurteilen floriert.“
Jassim, der auf so viele Sachen eine Antwort weiß, muss bei einer Zahl passen: bei seinem Alter. „Ich weiß nicht, wann ich geboren wurde“, sagt er. Iraker, die zu seiner Zeit auf dem Lande in armen Umständen zur Welt kamen, wurden später zur Volkszählung geschätzt. Demnach sei er jetzt 65 Jahre. Der Meister der Poesie hat seinen Geburtstag nie gefeiert, erst in Deutschland – wie schön. „Schön?“, fragt Hamdi Jassim zurück und beginnt zu lächeln. „Wissen sie, als ich die Geburtstage noch nicht gezählt habe, hatte ich das Gefühl, dass ich ewig lebe.“