Bedrängt, verfolgt, verhaftet…
Ihren Vater charakterisiert Dr. Ingeline Nielsen als einen heiteren, bescheidenen und bedächtigen Menschen mit starkem Glauben und Verantwortungsbewusstsein. Ihre Eltern habe eine bewundernswerte Offenheit verbunden, sie seien tolerant und solidarisch gewesen – und damit zur Anlaufstelle für Menschen mit Sorgen, besonders mit politischen Sorgen, geworden. Prof. Dr. Hans Gallwitz war von 1946 bis 1958 Professor an der MLU. Seine Tochter steht nicht ohne Grund am Montagabend in der Aula des Löwengebäudes, um über seine Geschichte zu berichten. In einer Feierstunde gedenkt die Universität der Opfer politischer Verfolgung in der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR.
Nielsen liest dabei auch aus einem Brief des damaligen Prorektors und späteren Unirektors Leo Stern vor, in dem es 1952 um die geplante Suspendierung ihres Vaters geht. Von einem „notorischen Schädling der gesamten Arbeit unserer Universität“ ist da die Rede. „Vater ein Schädling – das war ein Schock“, sagt Nielsen heute. Sechs Jahre nach dem Brief gab es unter Stern gegen ihren Vater ein Disziplinarverfahren. Es sollte zu seiner Entlassung führen. „Es führte zu seinem Tod“, so Nielsen. Hans Gallwitz habe zu der Zeit Angriffe, persönliche Entwürdigungen und Verleumdungen hinter sich gehabt, die sich auf seine physische und seelische Gesundheit auswirkten. Er starb 1958 auf dem Leipziger Bahnhof an einer Embolie.
„Wir erinnern ein weiteres Mal an die dunklen Seiten unserer Geschichte“, sagt Rektor Prof. Dr. Christian Tietje zur Begrüßung auf der Gedenkfeier, auf der auch Oberbürgermeister Bernd Wiegand und Zeitzeuge Dr. habil. Jürgen Runge, in den 1950er Jahren Vertrauensstudent der Evangelischen Studierendengemeinde, sprechen. Es sei permanente Aufgabe und Selbstverständnis der Universität, sich der Vergangenheit zu stellen, sie aufzuarbeiten und der Opfer zu gedenken, so Tietje. Das Datum der Gedenkveranstaltung ist dabei bewusst gewählt: Der 17. Juni war 1953 der Tag des Volksaufstandes in der DDR. Dem hatten sich auch Professoren und Studierende der Universität angeschlossen, so Prof. Dr. Friedemann Stengel. Der Kirchenhistoriker leitet die seit 2012 bestehende Rektoratskommission für die Aufarbeitung der Universitätsgeschichte in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts. Die Kommission hat in den vergangenen Jahren Fakten aus der Universitätsgeschichte in Archiven erforscht, zeitgeschichtliches Material zusammengetragen. Der Impuls dazu kam von einer Initiativgruppe um Ingeline Nielsen, Jürgen Runge, Dr. Rolf Lorenz und Roswitha Hinz.
Allein aus der Zeit zwischen 1946 und 1961 sind 168 Namen von Mitarbeitern, Lehrenden und Studierenden der halleschen Universität bekannt, die aus politischen Gründen bedrängt, diszipliniert, verhaftet und oft zu mehr als zweijährigen Haftstrafen verurteilt wurden. Allein 40 von ihnen wurden zu 25 Jahren Haft verurteilt, je drei zu 15 und 20 Jahren und 16 zu zehn Jahren Haft. Zwischen 1949 und 1953 gab es sieben Todesurteile. Nicht mitgezählt, so Stengel in seinem Vortrag, seien Exmatrikulationen oder Fluchten allein vor dem Mauerbau.
„Lebendige Menschen stehen hinter diesen Zahlen“, mahnte Stengel, nach wie vor entstehe immer wieder der Eindruck, dass sie in Vergessenheit geraten sind. Die Geschichten der MLU-Angehörigen sind nun in Biogrammen auf einer am Montag freigeschalteten Webseite der Universität zusammengetragen. Dort finden sich auch rund 30 Biogramme von Personen, die sich schützend vor Studierende gestellt haben und dabei selbst in die Gefahr politischer Bedrängung gerieten. Mehr als 200 Fälle von Disziplinierung, Exmatrikulation, Entlassung oder Verhaftung sind zudem aus den Jahren 1961 bis 1989 bekannt. Die Aufarbeitung, wird auf der Gedenkfeier betont, ist bei weitem noch nicht abgeschlossen.
Auf dem Universitätsplatz wird im Anschluss an die Feier eine von Professor Joachim Dimanski gestaltete Gedenkstele eingeweiht – über dem Motiv aufbrechender Mauern steht auf ihr der Satz: „Zum Gedenken an die Mitglieder der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, die in der Sowjetischen Besatzungszone und in der DDR aus politischen Gründen verfolgt wurden, und die, die sich für politisch Verfolgte eingesetzt haben“. An der Stele spricht auch die ehemalige Bundestagspräsidentin Prof. Dr. Rita Süssmuth. „Ich stehe hier, weil es mir wichtig ist, dass wir nicht aufhören, diese Erinnerung zu praktizieren“, sagt sie.
Im gut gefüllten Audimax wird zum Abschluss des Abends das Dokudrama „Die Zerschlagung des Spirituskreises“ gezeigt. Unter Leitung des emeritierten Professoren Dr. Gerhard Lampe hatten sich Studierende des Instituts für Musik, Medien- und Sprechwissenschaften mit dem von Staatssicherheit und SED inszenierten Verbot einer Runde von zwölf „bürgerlichen“ und christlichen Wissenschaftlern der MLU in den 1950er Jahren befasst. Zeitzeugeninterviews, dokumentarisches Material, nachgestellte Szenen und wissenschaftliche Einschätzungen haben sie zu einem anderthalbstündigen Film zusammengefasst. Im Spirituskreis war auch Hans Gallwitz Mitglied.
Zur Webseite mit den Biogrammen: www.catalogus-professorum-halensis.de/politische-verfolgung-ddr/
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