„Erinnern ohne Geländer“: Über Ambivalenzen und Unübersichtlichkeit in der Erinnerung
Es ist kompliziert und wird gewiss nicht einfacher – diesen Schluss dürften viele der Anwesenden nach dem Vortrag von Charlotte Wiedemann gezogen haben. In einem gut gefüllten Hörsaal am Steintor-Campus sprach sie zum Thema „Erinnern ohne Geländer. Die neue Unübersichtlichkeit kartieren“. Mit ihrem Vortrag eröffnete sie die interdisziplinäre und fakultätsübergreifende Ringvorlesung, bei der ausgewählte internationale Expertinnen und Experten sowie MLU-Forschende ihre Forschung und Gedanken auf das Thema „Erinnerungskultur“ präsentieren.
Vorab meldete sich der SPD-Bundestagsabgeordnete und MLU-Alumnus Dr. Karamba Diaby per Videobotschaft zu Wort und dankte der Romanistin Prof. Dr. Natascha Ueckmann und dem Germanisten Dr. Steffen Hendel für die Organisation der Reihe: „Die Vorlesungsreihe ist Ausdruck davon, dass wir nicht mehr nur über, sondern mit dem Globalen Süden sprechen“, sagte der aus dem Senegal stammende Politiker.
In ihrer Vorlesung entwickelte Charlotte Wiedemann eine neue Vorstellung eines, wie sie es nannte, inklusiveren und gerechteren Weltgedächtnisses. Das Thema „Erinnerung“ werde aktuell viel diskutiert – häufig gehe es dabei um Fragen der Zugehörigkeit, Kämpfe um Anerkennung und globale Gerechtigkeit. Die Situation in Deutschland sei sehr speziell: Einerseits habe das Gedenken an den Holocaust einen sehr hohen Rang, andererseits hinke die Debatte zur Erinnerungskultur im internationalen Vergleich um Jahrzehnte hinterher – gerade, wenn es um koloniale Gewaltverbrechen gehe.
Insofern begrüßte Wiedemann, dass Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier erst vor wenigen Tagen bei einem Staatsbesuch in Tansania die Bevölkerung um Verzeihung für die Gewalttaten der deutschen Kolonialherren gebeten hat. Allein beim Maji-Maji-Aufstand gegen die Besatzer gab es Schätzungen zufolge bis zu 300.000 Tote – ein Verbrechen, das in Deutschland bis heute nicht offiziell als Kriegsverbrechen anerkannt ist.
Wiedemann sagte, es sei zudem eine Illusion, das Gedenken an den Holocaust in Deutschland wäre „wohl verwahrt“– im Gegenteil sei es „hoch gefährdet“. Das sehe man nicht zuletzt am wachsenden Zuspruch für die AfD. Und daran, dass man in Deutschland ein „Ende des Erschreckens über den Nationalsozialismus“ beobachten könne, wovon nicht zuletzt der zunehmende Vandalismus an Gedenkstätten zeuge. Die Autorin warnte vor dem Wiederaufleben des Totalitarismus und auch vor einem verstärkten Missbrauch der Erinnerung an den Holocaust und den Nationalsozialismus. Anstelle eines Leugnens seien falsche und völlige unangebrachte Vergleiche des Holocausts mit Bezug auf aktuelle Themen wie die Corona-Impfung getreten.
Dem möchte Wiedemann eine „neue Grundierung für Antifaschismus“ entgegensetzen und das Erinnern für außereuropäische Impulse öffnen, ohne dabei aber die Singularität des Holocaust infrage zu stellen. Das sei ein äußerst komplexes Unterfangen, bei dem Fixpunkte oder – um in der Sprache ihres Vortragstitels zu bleiben – verschiedene etablierte „Haltegriffe unbrauchbar“ geworden und so manches „Geländer weggebrochen“ sei. Begrifflichkeiten, die sich an die jüdische Philosophin Hannah Arendt anlehnen, ohne dass das direkt beabsichtigt gewesen sei, wie Wiedemann am Anfang ihres Vortrags bekundete.
Wiedemann betonte, dass es nicht darum gehe, weniger Verantwortung für den Holocaust zu übernehmen. Vielmehr gehe es darum – zusätzlich zu dieser großen Verantwortung – zum Beispiel auch die für Kolonialverbrechen zu übernehmen.
Wie groß der Bedarf dafür ist, zeige nicht nur die Rede Steinmeiers. Noch immer sei der Alltag postkolonialer Gesellschaften durch koloniale Namensgebungen geprägt, etwa der Fluss Niger, der in den Landessprachen völlig anders heißt. Gleichzeitig dürfe koloniales Erinnern kein bloßes Zugeständnis aus Opportunität sein, sondern bedürfe aktiver Arbeit.
Auch die Erinnerung an den Holocaust brauche neue Zugänge, um den Erfahrungen postnationalsozialistischer, postkolonialer, postmigrantischer Gesellschaften Rechnung zu tragen. Dass dies möglich ist, sei in Gedenkstätten zu beobachten, die sich zum Teil bereits auf ein diverseres Publikum eingestellt haben.
Eine fertige, vollständige und fixierte Erinnerung werde es nicht geben, so Wiedemann. „Erinnerungskultur soll Zweifel wecken, verstören und zum Nachdenken anregen.“ Und so entließ Wiedemann ihr Publikum am Ende wohl mit mehr Fragen als Antworten und vielleicht sogar einer größeren Unsicherheit, wie sich eine inklusivere und gerechtere Erinnerungskultur gestalten lässt.
„Eine Uni – ein Buch“ an der MLU
Das Projekt „Erinnerung in Komplexität“, das sich mit dem Buch „Den Schmerz der Anderen begreifen. Holocaust und Weltgedächtnis“ von Charlotte Wiedemann befasst, ist eines von neun Projekten an deutschen Hochschulen, die im Rahmen des Wettbewerbs „Eine Uni – ein Buch“ des Stifterverbands und der Klaus Tschira Stiftung mit 10.000 Euro gefördert werden. Bis zum Sommer 2024 sind zahlreiche Veranstaltungen an der MLU und in der Stadt Halle geplant, die sich mit dem Thema Erinnerungskultur befassen.
Die weiteren Termine im Überblick: https://veranstaltungen.uni-halle.de/veranstaltungen.html?reihe_id=468
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Die MLU ist eine von neun Hochschulen, deren Projektidee im Wettbewerb „Eine Uni – ein Buch“ des Stifterverbands und der Klaus Tschira Stiftung prämiert wurde. Beworben hatte sie sich mit dem Buch „Den Schmerz der Anderen begreifen. Holocaust und Weltgedächtnis“ von Charlotte Wiedemann. Prof. Dr. Natascha Ueckmann und Dr. Steffen Hendel haben das Projekt „Erinnerung in Komplexität“ initiiert. Sie sprechen im Interview über die Hintergründe und geben einen Einblick in das geplante Programm. Artikel lesen