Mit Doktortitel unter Bäckern: Claudia Tscheulin setzt auf Qualität
Den ersten Schritt in Richtung ihrer zukünftigen Karriere geht Claudia Tscheulin bereits als Teenager, auch wenn ihr das damals wohl noch nicht bewusst ist. Mitte der 1990er Jahre beginnt sie zu joggen und auf ihre Ernährung zu achten. Sie liest Zutatenlisten, beschäftigt sich mit Herstellungsverfahren und Tierhaltung. „Ich wurde Vegetarierin und wollte das fertige Zeug nicht mehr essen. Also habe ich mir Kochen und Backen beigebracht“, erinnert sich Claudia Tscheulin. Sogar Joghurt und Knäckebrot stellt sie in ihrem Elternhaus in Rübeland im Harz nun selbst her. Das war der erste große Klick in ihrem Leben.
Sie entdeckt ihre Leidenschaft für Fächer wie Bio, Chemie und Physik. „Nur in Englisch war ich grottenschlecht.“ Um das zu korrigieren, arbeitet sie nach dem Abitur als Au-Pair in San Diego, Kalifornien. Ein weiteres Jahr hängt sie zum Jobben an. „Das war 2002. Nach meiner Rückkehr stand ich vor der Frage: Was studieren?“ Claudia Tscheulin stößt auf den neuen Diplomstudiengang Ernährungswissenschaften an der MLU. Es macht Klick. Sie bewirbt sich und wird angenommen. „Ich hatte alles beisammen: Meine geliebten Naturwissenschaften und im Grundstudium auch Vorlesungen in Anatomie und Humangenetik.“
Und sie blüht in ihrem Wahlfach auf: Lebensmitteltechnologie. Endlich kann sie sich mit ihrem Leib-und-Magen-Thema beschäftigen: Wie können Lebensmittel gesund, tierwohlgerecht und möglichst ohne chemische Zusätze hergestellt werden? „Auch Agrarwissenschaften spielten eine große Rolle.“
Im Hauptstudium besucht sie ingenieurwissenschaftliche Vorlesungen, lernt Prof. Dr.-Ing. Joachim Ulrich vom damaligen Institut für thermische Verfahrenstechnik kennen. Wieder ein Klick: Der Wissenschaftler erfährt von ihrem Ziel, einen Doktortitel zu erlangen, und stellt ihr dies in Aussicht – insofern sie bei ihm die Diplomarbeit schreibt. Die erste Version „hat er mir um die Ohren gehauen“, erzählt Claudia Tscheulin schmunzelnd, doch neben dem strengen Menschen lernt sie auch den fürsorglichen kennen. „Ich hatte neben meinem Studium viel gejobbt, Pizza gebacken, Sushi-Kurse gegeben und bis in die Nacht gekellnert. Professor Ulrich meinte, ich solle meine Energie nicht verschwenden, und gab mir eine Stelle als wissenschaftliche Hilfskraft. Das rechne ich ihm bis heute hoch an.“
Anfangs arbeitet sie einer Promovendin zu, sammelt erste Erfahrungen im Labor. Ihre eigene Promotion dreht sich dann um Eiweißkristallisation. Claudia Tscheulin würzt das Ganze, indem sie das Werk in Englisch publiziert. 2012 hält sie schließlich ihre Promotionsurkunde in den Händen.
„Danach hatte ich Schwierigkeiten, im Berufsleben Fuß zu fassen: Niemand brauchte eine Ernährungswissenschaftlerin mit einem Dr.-Ing. für thermische Verfahrenstechnik.“ Wieder steht ihr Prof. Ulrich zur Seite, hilft ihr mit einer weiteren Anstellung am Institut durch die unsichere Zeit.
Ihr erster Job außerhalb der Universität führt Claudia Tscheulin in eine mittelständische Großbäckerei in Eisleben. Sie kümmert sich dort um die Qualitätssicherung, bis die Bäckerei ein Jahr später an den Konzern Aryzta verkauft wird. Wieder ein Klick, diesmal Claudia Tscheulins großer Moment. „Aryzta baute ein Werk in Polen und man suchte dort Unterstützung im Qualitätsmanagement - kurz QM. Ich war ungebunden und hatte Lust. Für mich wurde dieser Job zum Sprungbrett.“
Denn das polnische Werk gehört zur Aryzta-Tochter Fresh Start Bakeries. Diese beliefert hauptsächlich Mc Donald‘s mit Hamburger-Brötchen und hat europaweit mehrere Standorte. Als das Unternehmen Ende 2013 einen neuen QM-Chef sucht, landet ein Angebot auf Claudia Tscheulins Schreibtisch. „Mein Doktortitel war mein Pluspunkt. In der Bäckereibranche haben nur wenige einen solchen Titel.“ Gepaart mit ihren praktischen Erfahrungen, Fach- und Sprachkenntnissen ist sie die perfekte Kandidatin. Sie greift zu. „Director of Quality FSB Europe, das bedeutete: viel Verantwortung, viele Reisen und gutes Geld.“
Sie kostet die Zeit voll aus, bis sie Ende 2015 ihr erstes Kind bekommt. Die Familiengründung rückt in den Vordergrund. 2016 heiratet sie, 2017 bringt Claudia Tscheulin ihr zweites Kind zur Welt. „Halle blieb die ganze Zeit unser Fokus, wir lieben unsere Stadt. Mein Mann ist ein Durch-und-durch-Hallenser, ich habe ihn beim Tanzen kennengelernt. Das ist unsere Welt.“
Überhaupt, der Sport. Für Claudia Tscheulin das Salz ihres Lebens. Als Studentin startet sie am Unisport-Zentrum mit Tao Bo. Während des Promotionsstudiums lässt sie sich zur Trainerin und Übungsleiterin ausbilden, gibt selbst Kurse. Während sie ihre Karriere angeht, radelt sie und joggt, und schon nach der ersten Schwangerschaft klopft sie wieder am Unisport-Zentrum an. Bis heute gibt Claudia Tscheulin dort Sport-Kurse.
Nach der Elternzeit kniet sie sich 2017 erneut in den Job. „Ich wollte beweisen, dass es in unserer schönen Stadt möglich ist, als Akademikerin mit Doktortitel erfolgreich zu sein.“ Es gelingt ihr einmal mehr, auch dank ihres beruflichen Netzwerks. Diesmal arbeitet sie mit am Aufbau einer mittlerweile 150 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter starken Tiefkühlbäckerei. Das Unternehmen, ARTiBack, spezialisiert sich auf gesundes Brot. „Adé Chemiebaukasten – das geht auch im industriellen Maßstab.“ Wieder kann sie sich als Qualitätsmanagerin voll einbringen, als neue Zutat streut sie Fragen der Nachhaltigkeit ein. Die derzeitige Übernahme von ARTiBack durch die Schwarz-Gruppe bringt neue Herausforderungen für Claudia Tscheulin mit sich, die sie jedoch als Chance begreift.
In all den Jahren ist die Hallenserin der MLU verbunden geblieben. Seit einiger Zeit reift in ihr der Wunsch, nebenberuflich als Gastdozentin zu arbeiten, auch, weil sie Abwechslung liebt und ein Lehrauftrag ihr Leben zusätzlich bereichern würde: „Ich möchte aus meinem Berufsalltag heraus erklären, warum es strenge Standards geben muss. Denn ein gutes Brot entsteht nur, wenn jede Zutat stimmt und auch die Zutaten einwandfrei sind.“ Erste Gespräche dazu mit der MLU gab es bereits. Vielleicht macht es auch diesmal Klick.