Das Dorf in der Kunst - zwischen Idyll und Realität
An den Universitäten Halle-Wittenberg, Konstanz, Potsdam und Weimar besteht ein interdisziplinäres Forschungsprojekt zum Thema „Experimentierfeld Dorf. Die Wiederkehr des Dörflichen als Imaginations-, Projektions- und Handlungsraum“. Es wird innerhalb der Förderinitiative „Schlüsselthemen für Wissenschaft und Gesellschaft“ für drei Jahre von der Volkswagenstiftung mit 707.000 Euro gefördert. Öffentliche Workshops, Tagungen und Vortragsreihen sind an allen vier Standorten geplant.
Projektleiter ist der hallesche Professor für Komparatistik Werner Nell. Er und der Mitarbeiter am Landesforschungsschwerpunkt „Aufklärung – Religion – Wissen“ Marc Weiland gaben im Band 1 der Reihe „Rurale Topografien“ erste Forschungsergebnisse heraus.
In 26 Beiträgen wird gefragt: Wie passt die Idealisierung des Landlebens zum realen Verschwinden ganzer Dörfer und ihrer dörflichen Bewohner? Welches Dorfbild vermitteln Medien und Literatur? Wie wirken sich demografischer und infrastruktureller Wandel aus? Hat das Dorf als Lebens- und Sozialform Zukunft? Wenn ja: Wie sieht diese aus und wie lässt sie sich auf aktuelle und historische Vorstellungen eines guten Lebens beziehen? Was wollen und sollen Medienformate wie Volksliederhitparaden, Landarztserien, „Bauer sucht Frau“? Gibt es Unterschiede zwischen der Dorfproblematik in Deutschland und in Osteuropa? Welchen Stellenwert haben Dorf und Dörfliches angesichts zunehmender Globalisierung und Urbanisierung unserer Lebenswelt?
Aus Konstanz kommen Analysen zu gesellschaftlichen Entwicklungen im 19. Jahrhundert nebst Untersuchungen sozialistischer Entwürfe in der DDR; in Potsdam wird – vor dem Hintergrund der sozialen, ökonomischen und kulturellen Veränderungen des ruralen Raums im östlichen Europa nach 1990 – die Situation in polnischen, ukrainischen und russischen Literaturen und Filmen in den Blick genommen; in Weimar geht es um das Wechselspiel unterschiedlicher Lebensvorstellungen im urbanen und im ruralen Raum.
Die halleschen Literaturwissenschaftler Werner Nell und Marc Weiland befassen sich mit den vielschichtigen Entwicklungen und Modellbildungen in der Weltliteratur wie auch mit der konkreten Situation in der aktuellen deutschsprachigen Literatur. Cervantes, Agatha Christie, Knut Hamsun, Friedrich Hebbel, Annette von Droste-Hülshoff, Jean Paul und viele andere werden als Kenner des Dorfes zitiert.
Nell konstatiert: „Wann, wo und wie bestimmte Bilder des Dörflichen erzeugt oder aber wieder aufgenommen werden, verweist jeweils auch auf die verschiedensten Erfahrungen, Erwartungen und Ansprüche, die eine Gesellschaft in einer spezifischen Situation bewegen.“ Weiland ergänzt: „Es geht dabei auch darum, die Verflechtungen von imaginären, sozio-kulturellen und realen Räumen aufzuzeigen und die Frage zu beantworten, wie Literaturen und Filme sich nicht nur aus unseren alltäglichen Erfahrungen speisen, sondern auch auf diese zurückwirken.“ Diskutieren würden die beiden ihr Buch am liebsten (nachzulesen in einem Interview auf der Homepage des Verlags) „mit Urbanisten und Landschaftsplanern, mit Demographie-Beiräten und Landlust-Lesern, mit Heimatdichtern und eingefleischten Großstädtern“.
Andere Beiträger widmen sich etwa Werken von Arno Schmidt, Arnold Stadler, Michel Houellebecq und Jan Brandt, zitieren Martin Heidegger und Hermann Broch, Martin Walser, Uwe Johnson und Ernst Bloch. Am Schluss quasi Dorf pur: in dem mit Platons Höhlengleichnis in Beziehung gesetzten starken Film von Michael Haneke „Das Weiße Band“.
Die überreiche Faktenfülle des Buches kann hier nicht annähernd wiedergegeben werden – man muss es lesen.
Angabe zum Buch
Werner Nell/Marc Weiland (Hg.): Imaginäre Dörfer. Zur Wiederkehr des Dörflichen in Literatur, Film und Lebenswelt, Bielefeld 2014, 542 S., 39,99 Euro, ISBN 978-3-8376-2684-1.