Das Pentathlon Projekt: Reif für die Insel
„Halten, Christian, halten!“, ruft Felix aufgeregt und geht in die Knie, den Blick fest auf Johannes gerichtet, der über dem grauen Teppichboden des Seminarraums im Melanchthonianum zu schweben scheint. Christians schwarze Hemdsärmel sind hochkrempelt, man kann ihm die Anstrengung ansehen, auch wenn seine Augen verbunden sind. Der Linguistik-Student lehnt sich zur Seite, stemmt sich gegen das Gewicht des großgewachsenen Johannes, das an dem Fahrradschlauch in seinen Händen zieht.
Einen anstrengenden Tag, den haben uns die Projekt-Macher Stefan Person und Jörg Wiesner schon bei der Einführungsveranstaltung am Mittag versprochen. Doch nicht etwa sportliche Rekorde sollen beim Pentathlon im Mittelpunkt stehen, so heißt es, sondern vielmehr die Soft Skills der Teilnehmer: Kreativität, Spontaneität und vor allem Teamgeist. Und so gehen weder ich noch die rund 70 anderen Studenten, die sich an diesem verregneten Dezemberfreitag im Hörsaal XX versammelt haben, allein in den Wettkampf. In sieben Gruppen treten wir an.
„Dreh dich noch ein Stück nach links!“, weise ich Johannes, den BWL-Studenten mit den wilden Locken, an, während der ruhige Vincent mit aller Kraft versucht, dessen Füße am Boden zu halten. Bloß nicht wieder abstürzen, hoffe ich. Denn schon beim ersten Versuch, die „Pentathlon Insel“, einen mit Malerkrepp auf dem Fußboden abgeklebten, etwa drei Meter großen Kreis, im Anflug einzunehmen, hatte uns die Schwerkraft einen Strich durch die Rechnung gemacht und Johannes war bäuchlings auf dem Boden der Realität gelandet. Dabei war er dem kleinen blauen Eimer in der Mitte des Kreises und der darauf stehenden Wasserflasche, die es von der Insel zu bergen gilt, schon so nahe gekommen. Eine Mission Impossible?
Um uns herum klickt unentwegt der Auslöser von Christiane Krohes Spiegelreflexkamera. Sie ist Mitarbeiterin im Personalmanagement der Witt-Gruppe, einem europaweit agierenden Textilversandhändler, dessen rotes, an ein Wollknäuel erinnerndes Logo auf meinem Namensschild prangt. Zusammen mit ihrer Kollegin Katharina Steffen begleitet sie uns den Tag hindurch – und bewertet uns. Denn wer sich beim Pentathlon, dem „Karriere-Wettkampf“, am besten schlägt, dem winkt ein gemeinsames Abendessen mit den Vertretern der diesjährigen Pentathlon-Partner – BUW, Dell, EnviaM, die Günter Papenburg AG, itCampus, Schiffl und Witt – und die Chance auf Praktikum oder Berufseinstieg.
Eine Brücke zwischen Studierenden und Unternehmen will das Pentathlon Projekt bauen, haben uns die Projekt-Initiatoren erklärt. Und eine Brücke bauen müssen auch wir, um bei diesem Fünfkampf zu punkten. Aus Karteikarten. Das kann doch wohl nicht so schwer sein, denke ich mir. Immerhin habe ich schon als Kind mehretagige Kartenhäuser errichtet. Doch halt! 70 Zentimeter Spannweite soll sie haben und die Last einer Wasserflasche tragen können, liest Yvonne von dem schon sichtlich abgegriffenen Aufgabenblatt mit Pentathlon-Logo ab. Die gelernte Bankkauffrau und BWL-Studentin legt die Stirn in Falten. Die gelben A6-Bögen einfach aneinanderzukleben, hat sich damit wohl erübrigt – und wir haben weder Statiker noch Ingenieure unter uns.
„Auf jeden Fall mehrlagig sollte sie sein“, meint der großgewachsene Max, an dessen linkem Ohr ein kleiner Stecker blitzt. „Hängebrücken sind doch sehr stabil, oder?“, wirft Felix ein. Er ist der Jüngste in unserer Runde. Konzentriert starren wir auf den Stapel Papier und die Klebestifte, die in unserer Mitte liegen und darauf warten, verbastelt zu werden. Da schießt es mir wie ein Blitz durch den Kopf – Fernsehen bildet also doch manchmal. „Falten!“, rufe ich triumphierend, „Wir sollten das Papier wie eine Ziehharmonika falten.“ Ich greife mir einen der Bögen und knicke es mehrmals entlang der blauen Linierung, sodass Zick-Zack-Falten entstehen „So!“ Mein Vorschlag stößt auf Zustimmung in der Gruppe, Max und Yvonne schnappen sich sofort Leimstifte und Papier, knicken und kleben akribisch, Karteikarte an Karteikarte.
Währenddessen schart Felix eine Gruppe um sich, die die Konstruktion geeigneter Brückenträger übernehmen will. „Vielleicht sollten wir die Karten zusammenkleben, wie eine Klorolle, und dann zwei nebeneinanderstellen?“, fragt Linguistik-und Medien-Studentin Rossitza, legt ihren roséfarbenen Blazer beiseite und streift, bereit zur Tat zu schreiten, die Ärmel ihres Pullovers hoch. Schnell sind einige Klorollenträger zusammengeleimt. Richtig überzeugen kann die Konstruktion allerdings nicht. „Oder doch ein rechteckigen Turm?“, schlägt Felix vor. Rossitza scheint schon zu wissen, wie. Sie greift zu Schere und Papier, schneidet behände in vier Karten oben rechts und unten links einen Schlitz und steckt sie zu einem Quader zusammen. Das sieht schon belastbarer aus – und besteht auch den manuellen Drucktest. Links von mir fügt Bastler Max indes die letzten Brückenteile aneinander – nur die Klebestifte drohen zur Neige zu gehen.
Mit vier nur sparsam verklebten Stützen steht sie dann da: unsere Pentathlon Brücke. An beiden Seiten mit einigen Zentimetern Überhang versehen, die mit Scheren und Klebestiften beschwert sind. Auch wenn der Belastungstest noch aussteht, sind wir erleichtert und ein wenig stolz. Denn immerhin haben wir uns ein Zeitpolster von gut zehn Minuten erarbeitet. Am Anfang des Projekttages wäre das noch schiere Illusion gewesen: Bei der ersten Aufgabe, eine Präsentation über die Witt-Gruppe in Null-Komma-Nix zu erarbeiten, hatten wir uns zeitlich und organisatorisch nämlich noch ganz schön verzettelt. Im Laufe des Tages mit seinen kuriosen und spannenden Aufgaben („Erfinden Sie eine völlig neues Produkt für Ihrer Unternehmen, in 30 Minuten“) und hitzigen Debatten („Soziale Netzwerke: Zeitverschwendung und Treiber der Vereinsamung?“) ist unsere Routine bei Zeitmanagement und Koordination jedoch deutlich gestiegen.
Es wird Zeit für die Bewährungsprobe. Der Spielleiter zückt die Wasserflasche, die unser Bauwerk halten soll, und versucht, sie auf der uns jetzt etwas zu schmal erscheinenden Brückenplatte zu platzieren. Es wackelt. Die Schere vom rechten Brückenrand fällt herunter. Doch die Brücke bleibt standfest. Ruhe bewahren, neuer Versuch, wieder Daumendrücken. Die Flasche steht – und unter ihr unsere Brücke!
Aber eine weitere Hürde wartet nach dieser letzten gemeinsamen Aufgabe noch auf uns: Die Auswertung. Jetzt entscheidet sich, wer von uns neun eine Einladung zum Abendessen bekommt… Fünf kommen schließlich weiter. Max, Felix, Rossitza und Yvonne. Auch Johannes kann sich über eine der begehrten Einladungen freuen. Dank seines nachmittäglichen Kraftakts bei der „Pentathlon Insel“.
„Jetzt gaaanz weit nach vorn strecken. Vorsichtig, nicht die Flasche umkippen, gleich hast du den Eimer!“ Felix hält sich die Hände vor den Mund. Rossitza blickt gebannt auf Johannes: Auf dem Boden kniend streckt er sich knapp über dem Boden in Richtung Kreismitte, während der hinter ihm stehende Christian ihn prustend an dem um seinen Oberkörper geschlungenen Fahrradschlauch festhält. Mit den Fingerspitzen tastet Johannes erwartungsvoll nach dem blauen Eimer – und bekommt ihn schließlich zu fassen. „Zieh ihn wieder hoch, schnell!“ Christian tut wie ihm geheißen und versucht, den schon leicht schnaufenden Johannes wieder an Land zu ziehen. Doch plötzlich kommt die Flasche ins Wanken, wir sehen unsere Felle dahin schwimmen, ich halte den Atem an. Mit letzter Kraft gelingt es dem „blinden“ Johannes schließlich, den Eimer wieder ins Gleichgewicht und hinter die Krepplinie zu bringen. Sichtlich angestrengt befreit er sich von dem Fahrradschlauch, rappelt sich auf und reckt die Flasche wie einen Pokal empor.