Dem Radio reicht das Hören nicht mehr aus
Jason Loviglio war wohl der Gast, der den weitesten Weg zurücklegen musste: „Mein Flug von Baltimore nach Berlin hat acht Stunden gedauert.“ Anlass für die Reise des Medienwissenschaftlers von der University of Maryland war die Tagung „Digitale Sinneskulturen des Radios“, die der Masterstudiengang ONLINE RADIO von der Uni Halle in Berlin ausgerichtet hat. Unterstützt wurde das Team dabei durch den Fachbereich „Experimentelles Radio“ der Bauhaus-Uni in Weimar und der Redaktion des Medien- und Kulturmagazins „Breitband“ von Deutschlandradio Kultur. In Berlin trafen sich am vergangenen Wochenende um die 70 Wissenschaftler, Medienkünstler und Radiopraktiker, um über die Zukunft „ihres Mediums“ zu sprechen. Einhelliger Konsens war dabei: Das Radio hat sich im Zuge der Digitalisierung stark verändert. Mittlerweile reicht es den meisten Hörern eben nicht mehr aus, Radio einfach nur zu hören – Radio muss sehbar, greifbar oder besser erfahrbar gemacht werden. Dabei hatte jeder Referent eine ganz andere Vorstellung davon, wie das funktionieren könnte.
Ein besonderes Beispiel lieferte der Radioforscher und Radiomacher Tiziano Bonini aus Italien: Gemeinsam mit seinen Kollegen hat er dort eine Radiosendung geschaffen, in der die Hörer, frei nach Brecht, ihre eigenen Geschichten erzählen können. Normalerweise werden Hörer nur portioniert und sporadisch ins Programm genommen – etwa bei Gewinnspielen, Anrufersendungen oder freiwilligen Verkehrsmeldungen. In Boninis Sendung „Voi siete qui“ (Ihr seid hier) steht der Hörer viel stärker im Vordergrund: Hauptbestandteil einer Sendung ist immer eine Geschichte eines Hörers, die von einem professionellen Schauspieler vorgetragen wird. Währenddessen können andere Hörer ihre Gedanken oder eigenen Geschichten zum Thema auf Facebook posten – und diese fließen dann wieder in die Sendung zurück. (Den Vortrag nachhören)
Radio Aporee – ein Geo-Radio
Eine ganz andere Vorstellung von Radio hat der Medienkünstler Udo Noll. Für ihn liegt die Zukunft des Radios „nicht in Podcasts, oder On-Demand-Programmen“. Stattdessen müsse Radio die Grenzen des Raumes noch viel stärker überwinden. Dafür hat Noll radio aporee entwickelt, eine interaktive Karte, auf der die Nutzer ihre eigenen dokumentarischen Aufnahmen hochladen können. Auf diese Art und Weise könne der Nutzer, so Noll, den Raum, den Audio schafft, ganz anders erfahren. Über 20.000 Audioaufnahmen von allen Erdteilen sind auf der Plattform mittlerweile schon versammelt. Auf Grundlage dieser Karte hat Noll dann sein eigenes "Radio-Programm" entwickelt: Einen Stream, der das Programm nach bestimmten Algorithmen, beispielsweise Geo-Koordinaten, programmiert: „Das Programm des Streams wird unter anderem auch dadurch verändert, wenn sich ein neuer Nutzer in den Stream einwählt“, erklärt Noll. Die Software ermittelt den Standort des neuen Hörers und versucht, Geräusche in der Nähe dieses Nutzers mit ins Programm einfließen zu lassen. (Den Vortrag nachhören)
Die sind nur zwei der Beispiele, die im ehemaligen Funkhaus der DDR in der Nalepastraße in Berlin diskutiert wurden. So wurden auch neue Technologien vorgestellt, die Audiodateien auf eine besondere Art und Weise im Netz präsentieren können, zum Beispiel der Hyperaudio-Player. Eine andere Art von Mitmachradio hat das Projekt „Radiorollenspiel“ vorgestellt. Dort können Hörer zu Mitspielern in einem Rollenspiel werden und so Morde aufklären oder andere Rätsel lösen.
„Alle Beiträge haben gezeigt, dass Radio vor allem eine bunte Zukunft vor sich hat“, resümiert Junior-Professor Dr. Golo Föllmer von der Uni Halle. Neben Podcasts, Web-Radios und im „guten, alten“ Radio werde es immer wieder Experimente geben, die immer wieder hinterfragen werden, was Radio eigentlich heißt. „Vielleicht ist das Wort ja gar nicht mehr so aktuell.“
Vorträge nachhören
Die Vorträge der Tagung können auf der Homepage von ONLINE RADIO nachgehört werden.