Der verborgene Audio-Schatz der Universität
So richtig glücklich ist Peter Müller vom Seminar für Sprechwissenschaft und Phonetik nicht, wenn er über die phonetischen Sammlungen sprechen soll: „Es ist einfach zu wenig Zeit da, das Archiv systematisch zu erschließen.“ Müller ist „Ingenieur für Lehre und Forschung“ am Seminar für Sprechwissenschaft und Phonetik. Neben seinen regulären Aufgaben betreut er unter anderem auch die Phonetische Sammlung. Diese setzt sich eigentlich aus zwei Bereichen zusammen: „Da ist zum einen die Gerätesammlung. Sie umfasst alle Geräte, die zum Abspielen der einzelnen Tonträger notwendig sind“, erklärt Müller. So zählen zu den technischen Schätzen der Sammlung ein Edison Phonograph aus dem Jahr 1905, ein Kymographion (1915) und natürlich auch ein altes Magnettonbandgerät aus dem Jahr 1954. Den größeren und für die Sprechwissenschaft aus wissenschaftlicher Sicht relevanteren Teil bildet das so genannte Schallarchiv, das aus über 4500 Tonträgern besteht. Darunter sind Aufnahmen aus allen Bereichen der Sprechwissenschaft, also aus Phonetik, Rhetorik, Sprach-, Sprech- und Stimmstörungen sowie aus der sprechkünstlerischen Kommunikation.
100 Jahre Audio-Geschichte
Die Ursprünge des Archivs gehen bis ins Jahr 1910 auf den Phonetiker Otto Bremer zurück. Dieser fertigte Aufnahmen für seine phonetische Forschung an. Einige Jahre später, 1925, gründete der hallesche Sprechwissenschaftler Richard Wittsack ebenfalls ein akustisches Archiv. Nach dem Tod Bremers wurden die beiden Archive 1937 zusammengelegt. Unter den etwa 12.000 Aufnahmen befinden sich auch echte Unikate, wie Aufnahmen des bereits 1930 ausgestorbenen Dialekts „Wangerooger Friesisch“ und die womöglich letzte erhaltene Aufnahme einer Kastratenstimme. Damit ist die Stimme eines Jungen gemeint, der vor der Pubertät und dem Stimmwechsel einer Kastration unterzogen wurde. So konnte die hohe „Knabenstimme“ erhalten werden. Auch Wahlkampfreden, Rezitationen und Mitschnitte aus der Frühzeit des Radios werden hier gesammelt. Diese Aufnahme einer Radioreportage zum Großen Preis von Deutschland (1935) auf dem Nürburgring gefällt Peter Müller besonders:
Zu den zahlreichen historischen Tondokumenten kommen auch immer wieder neue Aufnahmen dazu. Von jedem Vorsprechen der Sprechwissenschaftler werden Aufzeichnungen angefertigt, außerdem werden hier auch Vorträge oder Ähnliches archiviert. „Da kann man dann auch Aufnahmen unserer jetzigen Professorinnen und Mitarbeiter hören – das ist schon interessant“, kommentiert Prof. Dr. Baldur Neuber schmunzelnd. Er hat 2008 ein Projekt geleitet, bei dem Schüler an die Arbeit mit dem Schallarchiv herangeführt werden sollten. Seine Lieblingsaufnahmen stammen von dem Schauspieler Alexander Moissi. „Die Aufnahmen spiele ich gerne meinen Studierenden vor“, erklärt er. Moissi war Anfang des 20. Jahrhunderts einer der berühmtesten deutschen Schauspieler. Damals war es für männliche Schauspieler durchaus üblich, in einer sehr hohen Kopfstimme zu sprechen. „Heute wirkt das für uns aber eher absurd.“
Auch für Forschung und Lehre relevant
Das Schallarchiv ist aber nicht nur eine Art Museum für die Ohren. Es wird auch in der Lehre eingesetzt. Im Archiv finden sich Aufnahmen von einzelnen Therapiestadien bestimmter Stimm- und Sprechstörungen und auch Aufnahmen internationaler Studierender, die Deutsch lernen. Auch für Forschung außerhalb der Sprechwissenschaft ist das Archiv von besonderer Bedeutung: In ihm befinden sich Aufnahmen von Kurt Schwitters, Erich Kästner und beispielsweise Thomas Mann, die ihre eigenen Werke vortragen. „Das Archiv wird ständig von unseren Studierenden genutzt“, resümiert Neuber. „Sowohl für Seminar-, als auch für Abschlussarbeiten und sogar Promotionen.“ Das Problem des Archivs ist allerdings, dass bei weitem noch nicht alle der etwa 12.000 Aufnahmen digitalisiert und entsprechend archiviert sind. Bei den Sprechwissenschaftlern gibt es dafür derzeit keine Stelle. Und so bleiben viele der Aufnahmen im Archiv vorerst ungehört und unbearbeitet. Je mehr Zeit verstreicht, desto schwieriger wird aber die Arbeit mit dem Archiv, wie Peter Müller erklärt: „Viele der alten Tonträger verfallen mit der Zeit einfach, zum Beispiel die alten Wachs-Walzen oder die Magnettonbänder.“ Mit der Zeit verschlechtert sich also die Qualität der Aufnahmen, was eine Digitalisierung, also das Überspielen der Aufnahmen in ein digitales Format, aufwendiger macht: Bei den alten Bändern, die mittlerweile stark getrocknet sind, könne es beim Überspielen passieren, dass diese reißen und geklebt werden müssen. „Außerdem müssen viele der Aufnahmen digital nachbearbeitet, also beispielsweise mit einem Rauschfilter bearbeitet werden.“ Dafür sei im Tagesgeschäft viel zu wenig Zeit. Derzeit hofft Müller darauf, dass er eventuell eine Hilfskraft für die Archivierung bekommt oder anderswo Mittel für die Arbeit frei werden: „Eigentlich könnte man eine Person für ein ganzes Jahr in Vollzeit mit der Archivarbeit beschäftigen.“
Hinweis: "Die deutsche Bühne" hat ein Gespräch mit Prof. Dr. Uwe Hollmach vom Seminar für Sprechwissenschat und Phonetik geführt. Darin sind noch weitere Höreindrücke aus dem Schallarchiv zu finden.