Die Vertrauensfrage
Auf den ersten Blick sind sich Eisdorf und Jübar recht ähnlich: ländlich gelegen, weniger als 2.000 Einwohner, Kirche, Sportverein. Hier kennt man sich, hier verlässt man sich aufeinander. Oder nicht? „Was den sozialen Zusammenhalt betrifft, haben wir zwischen den Gemeinden erhebliche Unterschiede festgestellt“, sagt Dr. Jakob Hartl vom Institut für Soziologie. „Der ist im niedersächsischen Eisdorf deutlich stärker ausgeprägt als im altmärkischen Jübar.“ Gemeinsam mit Forschenden der Universitäten Göttingen, Bielefeld und Hannover haben Hartl und Prof. Dr. Reinhold Sackmann den gesellschaftlichen Zusammenhalt in zwölf Städten und Gemeinden untersucht – in je einem Dorf, einer mittelgroßen Stadt und einer Großstadt in Sachsen-Anhalt, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Bayern. 40.000 Fragebögen wurden im Februar 2021 an zufällig ausgewählte Haushalte verschickt, über 12.000 davon kamen ausgefüllt zurück – eine gute Quote für solche Erhebungen.
Initiiert wurde die Befragung vom Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ). Das vom Bund geförderte Institut wurde 2020 gegründet, um die regionale Vielfalt gesellschaftlichen Zusammenhalts in Deutschland in den Blick zu nehmen. „Zusammenhalt ist kein Begriff der klassischen Soziologie“, sagt Sackmann, Sprecher des halleschen Standorts des FGZ. „Wir betreten mit unserer Forschung gewissermaßen Neuland.“ Da sich Zusammenhalt nicht direkt messen lässt, zielen die Fragen der Forschenden auf drei zentrale Komponenten: die Identifikation mit dem Ort oder Stadtteil, das Vertrauen in die Mitmenschen und die kollektive Wirksamkeit – also die Erwartung, gemeinsam etwas bewegen zu können. Gefragt wurde beispielsweise, wie vielen Nachbarn man seinen Wohnungsschlüssel anvertrauen würde oder wie wahrscheinlich es sei, dass Mitbürgerinnen und Mitbürger gegen drohende Schulschließungen oder Randalierer im Wohngebiet einschreiten würden.
Dörfer sind Spitzenreiter
Die erste Auswertung der Ergebnisse zeigt eine klare Tendenz: Sozialer Zusammenhalt wird am stärksten in kleinen Gemeinden in den alten Bundesländern empfunden. Die ersten fünf Plätze belegen Dörfer und mittelgroße Städte aus Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Bayern, die untersuchten Gemeinden aus Sachsen-Anhalt – Jübar, Merseburg und Magdeburg – rangieren auf den letzten drei Plätzen. „Die Unterschiede sind nicht riesig, aber sie sind signifikant“, sagt Jakob Hartl. Besonders bei der Bewertung des Vertrauens schneiden die ostdeutschen Kommunen deutlich schlechter ab, während die Werte für Identifikation und kollektive Wirksamkeit in allen Gemeinden auf ähnlichem Niveau liegen. Hartl: „Wir beobachten hier sehr wahrscheinlich die Folgen der politischen Wende nach 1989, die für viele Menschen offenbar mit einer Erosion des Zusammenhaltgefühls einhergegangen ist. Das legen jedenfalls die Antworten nahe, bei denen die Befragten besonders prägende Ereignisse schildern konnten.“
Auffällige Unterschiede des gesellschaftlichen Zusammenhalts gibt es jedoch nicht nur zwischen Ost und West oder Groß und Klein, sondern auch innerhalb der Kommunen, insbesondere in Großstädten. Am Beispiel Magdeburgs ist das besonders augenscheinlich: Der Stadtteil Fermersleben etwa weist den mit Abstand niedrigsten Vertrauenswert auf und rangiert auch bei der Identifikation an viertletzter Stelle. Das unmittelbar südlich angrenzende Salbke hingegen bewegt sich beim Vertrauen im Mittelfeld und bringt es bei der Identifikation sogar auf den viertbesten Wert der Landeshauptstadt. „Dabei sind sich die Viertel in ihrer Struktur gar nicht so unähnlich“, sagt Hartl. „Ausschlaggebend für die stärkere Identifikation ist möglicherweise, dass in Salbke noch ein dörflicher Kern erhalten geblieben ist. Im Gegensatz dazu hat Fermersleben überdurchschnittlich viel Leerstand und ein Image als weniger attraktive Wohnadresse.“ Ebenfalls interessant: In den universitätsnahen Quartieren der nördlichen Altstadt sind die Vertrauenswerte hoch, die Identifikation jedoch gering. Hier kommen offenbar die stärkeren Migrationserfahrungen der Bewohner zum Tragen, etwa zugezogener Studierender, Forschender oder Hochschulmitarbeiter, die zwar keine gewachsene Bindung zu ihrem Viertel, dafür jedoch eine größere Offenheit gegenüber Fremden besitzen.
Krisen schweißen zusammen
Die aktuelle Befragung ist Teil eines dreistufigen Panels, zwei weitere Erhebungen folgen in den kommenden drei Jahren. „Wir wollen untersuchen, ob sich über die Zeit Änderungen in den Erfahrungen und Einstellungen zu sozialem Zusammenhalt ergeben und welche Gründe es dafür gibt“, sagt Reinhold Sackmann. „Daraus wollen wir auch ableiten, wie Zusammenhalt und bürgerliches Engagement gefördert werden könnten.“ Danach gefragt, welche Ereignisse zu stärkerem Zusammenhalt geführt haben, nannten die Menschen vor allem Krisensituationen – in Passau und Magdeburg war das zum Beispiel das Hochwasser an Donau und Elbe im Jahr 2013. Glücklicherweise gibt es aber auch positive Ereignisse, die zusammenschweißen, wie der zwischenzeitliche Aufstieg der Arminia in Bielefeld in die erste Bundesliga im Jahr 2020. Und die Spitzenplatzierung Eisdorfs, so mutmaßen die Göttinger Forscherkollegen, ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass die Bürgerinnen und Bürger dort stärker als in anderen Gemeinden in politische Entscheidungsprozesse eingebunden werden. „Positive Erfahrungen bei bürgerlichem Engagement sind grundsätzlich förderlich für gesellschaftlichen Zusammenhalt“, sagt Jakob Hartl. „Wichtig ist auch, dass Menschen sich begegnen können, etwa bei Straßenfesten oder kulturellen Veranstaltungen im Viertel. Nur wer sich kennt, kann gegenseitiges Vertrauen aufbauen.“
Dr. Jakob Hartl
Institut für Soziologie
Tel. +49 345 55-24253
Mail jakob.hartl@soziologie.uni -halle.de
Prof. Dr. Reinhold Sackmann
Institut für Soziologie
Tel. +49 345 55-24252
Mail reinhold.sackmann@soziologie.uni-halle.de