Durchleuchtet, transformiert – und abgewickelt? Die hallesche Germanistik nach der Wende
Der Hamburger Politologe Hans-Hermann Hartwich, Gründungsdekan des Fachbereichs Geschichte, Philosophie und Sozialwissenschaften an der MLU und ab 1991 Prorektor für Strukturreform, Entwicklungsplanung und Studienreform, hat es in einer Rückschau 1994 mit deutlichen Worten formuliert: Die Personalstärke an der Universität sei wie an anderen Hochschulen der DDR „nach westlichen Maßstäben erstaunlich und unerträglich hoch“ und „für den folgenden Reformprozeß erdrückend“ gewesen. Doch was bedeutete das? Und wie sahen die Konsequenzen nach der friedlichen Revolution konkret für einzelne Fachbereiche und ihr Personal aus? Die Strukturen der Hochschulentwicklung nach dem Zusammenbruch der DDR seien im Allgemeinen sehr gut beschrieben, sagt Mike Rottmann, Doktorand am Germanistischen Institut. Auch Reflexionen einzelner beteiligter Personen gebe es. Im Detail sei der folgende, sehr komplexe Transformationsprozess aber zum Beispiel in der Germanistik noch weitgehend unerforscht. Doch gerade diese Disziplin erweise sich als interessanter Fall, weil die Germanistik zu den größten Fächern zähle, eine öffentliche Dimension besitze und, nicht zuletzt, eine erhebliche strukturelle Relevanz aufweise. Von ihr kommt man, so Rottmann, schnell zu grundlegen Fragen, also zum Beispiel: Wie verändert ein politischer Systemwechsel den Sprachgebrauch und kulturelle Strukturen?
Rottmann gehört zu einem 2019 in Halle gegründeten Netzwerk „Akademische Archive“, in dem Nachwuchsforschende aus ganz Deutschland sich mit Wissenschaftsgeschichte, Universitätsgeschichte und der Fachgeschichte verschiedener geisteswissenschaftlicher Disziplinen befassen. In diesem Rahmen hat sich der 35-Jährige in den vergangenen Jahren neben der Arbeit an seiner Dissertation selbst mit der Neustrukturierung der Germanistik an der MLU befasst. Zahlen verdeutlichen dabei einen harten Schnitt: Noch 1989 waren rund 80 Personen, von Professorinnen und Professoren bis zum wissenschaftlichen Mitarbeiter, in dem Wissenschaftsbereich tätig. Etwas über 20 waren es fünf Jahre später, 2003 gab es nur noch 19 Stellen. Während ein Großteil der Professoren Mitte 1992 entlassen wurde, erfolgte der Abbau des Mittelbaus schrittweise. Der Mittelbau sei dabei zunächst im Wesentlichen ostdeutsch geblieben, so Rottmann. Nur zwei Lehrende, die bereits vor 1989 in der halleschen Germanistik tätig waren, wurden in der Transformationsphase zur Professorin beziehungsweise zum Professor ernannt – eine Sprachwissenschaftlerin und ein Altgermanist.
Das ostdeutsche Personal, erklärt er, ist damals in zweierlei Hinsicht evaluiert worden. Zum einen gab es die so genannte politisch-moralische „Integritätsprüfung“ – etwa auf Mitarbeit bei der Staatssicherheit. Mindestens drei der acht Professoren für Literaturwissenschaft sind „aus politischen Gründen“ entlassen worden, so Rottmann. Die entsprechenden Unterlagen habe schon Steffen Reichert 2007 in seiner großen, zweibändigen Studie „Unter Kontrolle. Die Martin-Luther-Universität und das Ministerium für Staatssicherheit 1968−1989“ ausgewertet. Wenn die „Integritätsprüfung“ aber bestanden wurde, folgte die fachliche Einschätzung durch Professorinnen und Professoren aus den alten Bundesländern. Doch welchen Einfluss hat diese konkret gespielt? Vor allem: Welchen konnte sie aus finanziellen Gründen spielen? „Als 1991/92 im Land die Strukturen für Universitäten entworfen wurden, wusste man noch nicht, wie viele Steuern fließen und hat deshalb sehr sparsam gerechnet“, sagt Rottmann. „Zu dem Preis, dass viele gehen mussten.“ Wie das im Detail begründet wurde, dazu hat Rottmann aktuell noch mehr Fragen als Antworten. Wovon er nach seinen bisherigen Recherchen ausgeht, ist, dass angesichts der finanziellen Zwänge eher die Frage stand, ob jemand in das neue „System“ passte. Damit meint Rottmann nicht das politische System. Gerade in der Germanistik sei vordringliche Aufgabe die Sicherung der Lehramtsausbildung gewesen, sagt er. „Forschung wurde erst einmal zurückgestellt. Ob jemand ein guter Wissenschaftler war, konnte man zwar feststellen, aber es führte nicht dazu, dass diese Person zwingend weiterbeschäftigt wurde.“
Die Literatursoziologie, sagt Rottmann, sei zu DDR-Zeiten zum Beispiel ein Leuchtturm der halleschen Germanistik gewesen. „Sie war in Ost wie West anerkannt, es gab eine große Kooperation mit Frankreich.“ Dennoch wurde sie komplett abgewickelt. Warum? Bisher hat Rottmann nur eine vorläufige Erklärung: Das Fach sei eher eine Art Forschungsinstitution gewesen, „so etwas kannte die westdeutsche Universität nicht“. Im Bereich der Neueren deutschen Literatur blieb von acht Professuren lediglich eine übrig, 1996 wurde eine zweite Stelle eingerichtet und besetzt. Wie auf alle Professuren mussten sich die Amtsinhaber neu für die Position bewerben. Rottmann nennt das Beispiel eines Professors, der „in Ost wie West hoch angesehen“ und in das Fachgutachtergremium der Deutschen Forschungsgemeinschaft gewählt worden war – und dennoch mit seiner Neubewerbung nicht zum Zuge kam. Dokumentieren lasse sich, dass im Wissenschaftsministerium angesichts von nur einer überhaupt zu vergebender Professur der Wunsch nach einem „Neuanfang“ frei von dem abzuwickelnden System herrschte. Gegen den Professor habe es Bedenken gegeben. Die Gründe dafür habe er bisher nicht ermitteln können, so Rottmann, wohl aber Interventionen westdeutscher Wissenschaftler gegen dessen Entlassung gefunden. Wenig später sei der Wissenschaftler übrigens nach Pisa berufen worden.
Geblieben sind der Germanistik in den Strukturplänen von 1992 fünf von den zuvor 15 Professuren. Dabei gab es durchaus auch hochfliegende Vorstellungen. Zum Beispiel das Gutachten von Prof. Dr. Hans-Gert Roloff von der Freien Universität Berlin, das vorsah, Halle zum größten deutschen Zentrum für Sprach- und Literaturforschung zu machen. Das Konzept beinhaltete 17 Professuren. Ein Ministerialbeamter hat damals notiert: „Interessanter Ansatz, aber leider kaum zu bezahlen“. Das Beispiel zeige aber, so Rottmann, dass es Westdeutsche gab, die mit großer Euphorie geplant haben. Neben mancher Debatte um vermeintlich schlechte Erfahrungen mit jenen, von denen sich die hiesigen Wissenschaftler „durchleuchtet“ gefühlt hätten.
Bisher hat Rottmann insbesondere im Landesarchiv Magdeburg geforscht, wo die Unterlagen des damals zuständigen Wissenschaftsministeriums lagern, im Universitätsarchiv sowie in Unterlagen des Germanistischen Instituts. Zur Verfügung stehen heute auch das Archiv einer Germanistin, die bis 1991 an der Akademie der Wissenschaften in Berlin tätig war und sich mit der Geschichte der Germanistik an verschiedenen Universitäten der DDR befasst hat, sowie die Sammlung eines Hamburger Professors zu gemeinsamen Kolloquien der Universitäten Hamburg, Halle, Jena und Rostock zu DDR-Zeiten. Letzteres könnte Hinweise darauf enthalten, wie gut sich Evaluierende und Evaluierte kannten. Auch erste Gespräche mit Zeitzeugen aus Halle hat es schon gegeben – bislang laut Rottmann allerdings eher vor dem Hintergrund, überhaupt auf Phänomene aufmerksam zu werden, die es noch zu erforschen gilt. Hoffnung setzt der Nachwuchswissenschaftler unter anderem auf Gelehrtennachlässe wie den des Literatursoziologen Prof. Dr. Dietrich Löffler, bisher nach seinen Angaben allerdings der erste aus dem Fachbereich, der seine Unterlagen dem Universitätsarchiv vermacht hat. Es sei zu wünschen, dass weitere Nachlässe in die Archive gelangen und dort aufgearbeitet werden.
„Viel verlief damals informell, auch improvisiert“, sagt Rottmann. Jedenfalls lasse sich nicht alles allein aus Strukturplänen ablesen. Und die fachlichen Evaluationen des einstigen Personals lassen sich nur dann auswerten und vor allem zitieren, wenn die Betroffenen oder ihre Erben zustimmen. Man müsse nach Briefen und weiteren Dokumenten suchen, müsse verstehen, wie Absprachen damals getroffen, wie gestritten wurde. Manches werde sich auch nicht überprüfen lassen. Mit seiner Forschung steht der 35-Jährige noch am Anfang. Notwendig sei, sich mit Biografien einzelner Personen zu beschäftigen, auch Vergleiche zwischen den Universitäten zu ziehen. Dafür wolle das Netzwerk „Akademische Archive“ ein Forschungsprojekt beantragen. „Alleine kommt man da an seine Grenzen.“ Auch für die MLU insgesamt wäre es aus seiner Sicht gut, diese Etappe der Universitätsgeschichte über Zeitzeugen zu dokumentieren, nicht nur aus der Germanistik. „Vielleicht gelingt es ja, eine Art Arbeitsgruppe einzurichten.“
Ost-/West-Germanistik an der Universität Halle (ca. 1980−2000). Zwischen Expansion, Transformation und Schrumpfung. In: Zeitschrift für Germanistik NF 33.1 (2023), S. 42–66, doi: 10.3726/92174_42