Ein Expressionist zwischen Kunst und Religion

04.04.2012 von Margarete Wein in Rezension, Wissenschaft
Was können eine Theologin und ein Landwirt gemeinsam haben? Regina Radlbeck-Ossmann und Altrektor Wulf Diepenbrock verbindet ihre Begeisterung für die Werke des Expressionisten Emil Nolde. Ihr neues Buch "Meisterwerk, Lebenskunst, Spiritualität" hat Dr. Margarete Wein für die "(Fach-)Literaturfabrik Universität" rezensiert.
Regina Radlbeck-Ossmann/Wulf Diepenbrock: Meisterwerk, Lebenskunst, Spiritualität. Universitätsverlag Halle-Wittenberg 2011.
Regina Radlbeck-Ossmann/Wulf Diepenbrock: Meisterwerk, Lebenskunst, Spiritualität. Universitätsverlag Halle-Wittenberg 2011.

Seebüll – punktueller Heimatort und grenzlose Welt zugleich. Als Besucher kommt man für zwei, drei Stunden oder einen Tag; Emil Nolde hat dort dreißig Jahre seines Lebens verbracht und Werke von Weltgeltung geschaffen. Vielen seiner expressionistischen Bilder eignet eine mystische Dimension, die sich nicht unbedingt auf den ersten Blick erschließt. Im Fundus des Landeskunstmuseums Moritzburg zählt dazu zweifellos „Der Prophet“ von 1912, ebenso aber Gemälde aus der „Brücke“-Sammlung von Hermann Gerlinger und solche aus späteren Jahren. Vier dieser Kunstwerke standen im Zentrum einer Veranstaltungsreihe Ende 2010, konzipiert, organisiert und realisiert von der katholischen Theologin Regina Radlbeck-Ossmann. Sie schrieb mit ihren Mitarbeitern Christian Schramm, Evamaria Strecker und Christopher Campbell die Texte der Bildbetrachtungen; Altrektor Wulf Diepenbrock, Landwirt und bekennender Nolde-Fan, wählte passende Passagen aus den autobiografischen Zeugnissen des Malers aus und trug sie vor. Kombiniert mit Kompositionen von Axel Gebhardt, lockte all das an den vier Adventssonntagen viele Hallenser in die Moritzburg. Die Resonanz war unerwartet groß. Deshalb beschlossen die Initiatoren, im Nachhinein auch allen, die nicht dabei sein konnten, das Ereignis zugänglich zu machen.

Ein Gesamtkunstwerk aus Bild, Wort und Musik

So entstand – nachdem die Edith-Stein-Schulstiftung, die Katholische Akademie des Bistums Magdeburgund die Saalesparkasse ins Boot gelotst und der Universitätsverlag Halle-Wittenberg (mit Stefan Schwendtner und Peter Junkermann) dafür interessiert worden waren – das vorliegende Buch. Es enthält vier Bilder von Emil Nolde – „Abendfriede“ (1930), „Lichte See“ (1915), „Boot im Schilf“ (1909) und „Simeon begegnet Maria im Tempel“ (1915) –, ein Grußwort von Bischof Gerhard Feige, Essays von Radlbeck-Ossmann, Diepenbrock und Katja Schneider (Direktorin der Moritzburg), schließlich ein Interview, das Frank Meierewert mit der Wissenschaftlerin und Malerin Sylvia Vandermeer führte. Außerdem gehört eine CD dazu mit eigens komponierten Stücken von Axel Gebhardt für Oboe, Querflöte, Klavier und Cello, gespielt von Josef Blank, Patricia Ballhausen, Arne Böker und dem Komponisten, sowie mit der Kantate für das Fest Mariae Reinigung („Ich habe genug“) von Johann Sebastian Bach, interpretiert vom Akademischen Orchester im Collegium musicum der Martin-Luther-Universität und dem Solisten Torsten Frisch (Bass), unter dem Dirigat von Matthias Erben.

Ein anderer deutscher Expressionist, der Hallenser Alfred Wolfenstein, nannte Lyrik einmal „die klangschöne Nachbarkunst der Musik“ und deutete damit auf die innere Verbundenheit aller Kunst hin. Vielleicht sind Emil Noldes Bilder die farbstarke Nachbarkunst des Wortes, oder die Kompositionen von Axel Gebhardt die klingenden Nachbarn der Malerei – das wird jeder individuell sehr ähnlich oder ganz anders empfinden.

Visionen, Kunst und Glauben

Sehen, hören, fühlen, glauben, das hängt oft eng zusammen, aber selten spürt man es so deutlich wie hier. Bischof Dr. Gerhard Feige hofft, die oft beklagte Sprachlosigkeit des Glaubens mit Hilfe der Kunst zu überwinden, denn diese könne „auf ihre ganz eigene Weise den Geschmack an Gott wecken“; und er zitiert Papst Johannes Paul II, der bei seinem ersten Deutschlandbesuch 1980 sagte: „Nirgends wird die Situation, das Lebensgefühl, aber auch der Fragehorizont des heutigen Menschen so eindrucksvoll dargestellt wie in der heutigen Kunst [...] Wenn der christliche Glaube als Wort und als Antwort für die Menschen vermittelt werden soll, müssen die Fragen dazu genannt [...] werden. – Die Kirche braucht die Kunst.“

Wulf Diepenbrock stellt Emil Nolde – den Namen seines nordschleswigschen Heimatdorfes nahm der Künstler Hans Emil Hansen erst im Jahr 1902, im Alter von 35 Jahren an – als Malergenie vor und als Visionär. Vermutlich hatte seine von Kindheit an intensive Neigung zur Bibellektüre keinen geringen Anteil daran, dass er sich eben nicht mit einem Dasein als „Postkarten- und Kalendermaler“ zufrieden gab, wie es der Zeitgeist der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts nahegelegt hätte. Zwar waren seine farbenfrohen Blumen- und Gartenbilder beliebt, doch er wollte mehr: „Ihn bewegten [...] die großen Schicksalsfragen der Menschheit gerade auch in ihrer religiösen Dimension.“ Seine Kunst griff ein, bewusst oder unbewusst, ins politische Leben der Kaiserzeit, der Weimarer Republik und des Dritten Reichs; seine Ideale und Zukunftsvisionen waren nicht von Irrtümern frei.

Hat Nolde die Bachkantate je gehört? Man weiß es nicht, aber sein Bildnis des Simeon, der im Tempel auf Maria, Josef und das Jesuskind trifft, bezieht sich auf dieselbe Bibelstelle wie diese Musik: Lukas 2, Vers 21–35. „Ich habe genug“ kann Simeon endlich sagen, denn er hat den Messias erkannt. Damit korrespondiert die Gewissheit von Sylvia Vandermeer: „Die stärkste Erfahrung, die Kunst vermitteln kann, ist der Blick in die Tiefe eines anderen Menschen.“ Die in der DDR aufgewachsene Katholikin ist sich sicher: „Die Suche nach ‚Wahrheit’ ist ja immer auch eine Suche nach Orientierung und damit eine Suche nach Antworten auf die Frage, wie man leben sollte. Heute ist das Angebot an Lebensentwürfen so vielgestaltig wie nie zuvor. [...] Die Idee der ‚Wahrheit’ zerfällt [...] In dieser Situation überrascht es nicht, dass es in erster Linie Künstler sind, denen die Aufgabe zufällt, in neuer Weise nach einem Sinn, nach ‚Wahrheit’ zu suchen.“ So ist das „Boot im Schilf“ für Vandermeer „eine Abstraktion der aufgewühlten Seele Noldes und seiner Suche nach Gott“.

Und noch viel mehr gibt es in diesem Buch, in den vorgestellten Bildern, in dieser Musik zu entdecken; man kann es sich selbst oder anderen schenken, in jedem Fall wird es Freude bereiten, zum Nachdenken animieren und Erkenntnis stiften.

► Regina Radlbeck-Ossmann/Wulf Diepenbrock: Meisterwerk, Lebenskunst, Spiritualität. Vier Werke Emil Noldes in der Begegnung von Kunst und Religion. Universitätsverlag Halle-Wittenberg 2011, 164 Seiten, vier Farbtafeln, eine CD, 24,80 Euro, ISBN 978-3-86977-038-3

Postskriptum

Aus einem Tag in Seebüll im März 2011 wurde das Gedicht „zeit- und ortsverschiebung“, das mit dem vorgestellten Buch nichts zu tun hat, mit Emil Nolde aber doch:

vor einem jahrhundert lag

EmilundAdas morgensonnenland

sorglos farbenfroh

am andern ende der welt

heute frisst mutter erde

ihre brut bringt sie

mit feuer und wasser

um

krumen des strahlenden mahls

verstreut sie

wie der zufall wind es will

vielleicht

fallen ein paar

aufs innig verkringelte krytogramm

der initialen A und E

im garten von Seebüll

am germanischen meer

sprießen aus den rabatten

buntere blumen

als je

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