Ein Wissensschatz aus dem Mittelalter
Wer war vor 700 Jahren mit wem verbündet? Schuldete jemandem Geld oder einen Gefallen? Hatte Land gekauft oder geschenkt bekommen? Um die Beziehungen von Menschen lange vergangener Jahrhunderte zu ergründen, brauchen Historikerinnen und Historiker Dokumente – seien es Briefe, zeitgenössische Dokumentationen, Verwaltungsregister oder Urkunden. Der italienische Historiker Carlo Morbio sammelte im 19. Jahrhundert offenbar mit großer Leidenschaft alles, was er in die Finger bekam. Unter anderem legte er eine Sammlung von Urkunden an, größtenteils aus dem 11. bis 15. Jahrhundert. Insgesamt etwa 3.700 davon lagern in den historischen Sammlungen der Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt und werden derzeit restauriert, erstmals inhaltlich erschlossen und digitalisiert. Dafür arbeitet die ULB mit der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zusammen und wird durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
„Wir wissen noch gar nicht, was die Sammlung im Einzelnen genau enthält“, so Dr. Julia Knödler, Leiterin der Abteilung Historische Sammlungen. 1890 kamen die Urkunden nach Halle, nachdem sie im Auftrag des preußischen Unterrichtsministeriums erworben worden waren. Noch niemand hat sie in Gänze systematisch erschlossen, nur einige besonders aufwändig gestaltete Prachturkunden wurden restauriert. Entsprechend ist die Sammlung nur wenigen Fachleuten ein Begriff, insbesondere aus der oberitalienischen historischen Forschung. Denn die Urkunden stammen größtenteils aus dem nördlichen Teil Italiens – aus Mailand, Venedig, Verona oder Florenz. Zu den Ausstellern und Empfängern gehörten berühmte Familien wie die Medici oder Visconti, aber auch die Dogen von Venedig. Daneben gibt es zahlreiche Notarurkunden. Vor allem diese Urkunden sind noch kaum erschlossen und dürften noch einiges an unbekanntem Wissen bergen, ist Knödler sicher. Außerdem sind Urkunden von Päpsten und Herrschern Teil der Sammlung. Diese enthielten Rechtstitel oder andere Begünstigungen. Auskunft geben diese Quellen aber nicht nur über die Austeller und Begünstigte, sondern über ganze Beziehungsgeflechte. „In mittelalterliche Urkunden sind in der Regel eine ganze Reihe Zeugen angegeben“, erklärt Knödler. „Von den meisten Namen hat man wahrscheinlich noch nie gehört.“ Machtverhältnisse, Koalitionen, Privilegien – all das versteckt sich in den Dokumenten.
Reinigung mit Latexschwämmen
Doch bevor die inhaltliche Erschließung und die anschließende Digitalisierung beginnen, müssen die Urkunden zunächst einmal restauriert werden. Viele der Dokumente sind geknickt, sie müssen gereinigt werden, manche sind gerissen. Sie wurden zudem bisher teilweise nicht sachgemäß gelagert. Viele der Urkunden kleben in riesigen Büchern, sogenannten Großfoliobänden, aus denen sie oft nicht wieder zu entfernen sind. Einige wurden gerollt oder gefaltet.
Zuständig dafür, die Urkunden wieder so gut wie möglich lesbar zu machen, ist Diplomrestaurator Péter Gönczi. Er leitet die Restaurierungswerkstatt der ULB. Alle Dokumente alleine bearbeiten kann der hauseigene Restaurator jedoch nicht – das würde viel zu lange dauern, sagt er. Daher bemühte sich die ULB neben der DFG-Förderung um weitere Gelder. Die Koordinierungsstelle für die Erhaltung des schriftlichen Kulturguts (KEK) stellte Mittel für die Bestandserhaltung bereit, mit denen die weniger aufwändigen Reinigungsarbeiten zum Teil ausgelagert werden konnten. „Von den 3.700 Urkunden säubere ich nur ungefähr ein Zehntel in Halle“, so Gönczi. Eine große Ladung Dokumente hat er im Herbst nach Leipzig an das Zentrum für Bucherhaltung geschickt, darunter die meisten Großfoliobände. „Dort wurde hauptsächlich Staub abradiert“, erklärt der Restaurator. Dafür wird ein spezieller Latexschwamm verwendet, der nicht krümelt. In Halle macht er dasselbe mit den komplizierteren Dokumenten, also beispielsweise solchen mit Siegeln oder aufwändigen, teils vergoldeten Malereien und Schriftzügen. Teilweise müssen auch Fremdkörper wie Klammern entfernt werden.
Die Reinigung ist jedoch nur der erste Schritt. „Dann kommt die Restaurierung von kaputten Stellen“, erklärt Gönczi. Sind Risse im Pergament, klebt er sie mit einem Gemisch pflanzlicher Stärke und dünnen Papierstreifen, in seltenen Fällen auch mit tierischem Darm oder mit dünn geschliffenen Pergamentstreifen. „Aber nicht jede Fehlstelle wird ergänzt“, sagt Gönczi. „Teilweise haben die Urkunden von Anfang an Löcher gehabt, weil die Tierhaut, aus denen das Pergament hergestellt wurde, Löcher hatte. Oder die beschädigten Stellen haben historische Gründe.“ Beispielsweise sei die Oberfläche zum Teil extra beschädigt worden, damit das Siegel besser hält. Es komme auch vor, dass die Tinte stabilisiert werden müsse, wofür ein aus der Schwimmblase von Süßwasserfischen gewonnener Schleim genutzt wird. „Damit wurde Tinte früher fixiert, das Bindemittel verschwindet aber mit der Zeit“, erklärt der Restaurator. Moderne Kleber oder Bindemittel kommen nicht in Frage, da der Originalzustand der Urkunden möglichst bewahrt werden soll.
Zum Glätten in die Wanne
Die Dokumente, die in Leipzig gereinigt wurden, hat Gönczi mittlerweile zurück und nun beginnt die nächste Phase: das Glätten. Was sich einfach anhört, ist es nicht, denn die meisten Stücke sind aus Pergament verfasst, nur etwa 50 aus Papier. Das Problem sei, dass Tierhaut ihre natürliche Form wieder annehmen möchte – also rund statt glatt, so Gönczi. Zudem sind die alten Schriftstücke empfindlich, sie reißen oder brechen leicht. „Zuerst muss ich das Pergament vorsichtig anfeuchten“, erklärt der Restaurator. Dafür wird es für einen Tag in eine Wanne mit angefeuchtetem Löschpapier gelegt – mit Abstandhaltern, damit es die Wassermoleküle langsam aus der Luft aufnimmt. „Weil es über 3.500 Urkunden sind, kann man nicht nach einem Standardverfahren vorgehen.“ Stattdessen habe er ein Massenverfahren entwickelt mit Riesenwannen, wie sie Mechaniker für den Ölwechsel verwenden. In diese passe auch die größte Urkunde vollständig hinein, von den kleinen dafür gleich mehrere auf einmal. Allerdings sei es damit nicht getan. „Während feuchtes Papier sich dehnt, tut Pergament das nicht“, so Gönczi. Es kann also nicht sofort in eine Presse, sondern muss zunächst Stück für Stück mit Gewichten geglättet werden. Das sei vor allem dann nötig, wenn das Pergament gefaltet wurde. Erst danach kommen die Urkunden in große Pressen, in denen sie einige Tage oder sogar Wochen bleiben.
Die gesäuberten und geglätteten Urkunden können dann schließlich inhaltlich erschlossen und digitalisiert werden. Gescannt werden die Urkunden in der Digitalisierungswerkstatt der ULB, die mit Spezialgeräten für unterschiedliche Materialien ausgestattet ist. Die inhaltliche Erschließung sei zunächst nur eine Grunderschließung, erklärt Julia Knödler. Dabei gehe es darum, zentrale Eckdaten wie die Jahreszahl und die Namen von Aussteller und Empfänger sowie den Ausstellungsort und eine kurze Inhaltangabe zu erfassen. „Danach kann man dann auch abschätzen, bei welchen Stücken eine Tiefenerschließung, ein sogenanntes Vollregest, lohnenswert ist“, sagt Knödler. Das heißt, dann wird der Inhalt der Urkunden genauer verschlagwortet, beispielsweise mit detaillierten Informationen zu den Rechtsgeschäften oder einer vollständigen Auflistung aller Zeugen. Um diese Tiefenerschließung möglich zu machen, wäre jedoch ein weiteres Drittmittelprojekt notwendig, so Knödler.
Auch Péter Gönczis Arbeit ist mit Abschluss der Digitalisierung noch nicht getan. „Genauso wichtig wie die Restaurierung ist die richtige Aufbewahrung“, erklärt er. Die Dokumente sollen künftig in Mappen lagern, die in große Schubladen in speziellen Schränken passen, damit die Urkunden länger glatt bleiben. Er habe schon mehrere Prototypen von Mappen angefertigt, so Gönczi. „Wie so häufig in der Restaurierung muss man sich das alles selber ausdenken.“ Den einen Standard gebe es nicht, für jede Dokumentenform sind andere Aufbewahrungsmöglichkeiten am vorteilhaftesten. „Das ist aber eigentlich auch das Schöne an meiner Arbeit, dass man immer wieder neue Lösungen finden muss.“