„Eine Fikentscher [...] zu sein, verpflichtet“
Wilhelms Anteil an Gertruds Bildung muss beträchtlich gewesen sein. Ohne Reifeprüfung, nach einem „Kulturexamen“ vor dem Preußischen Kultusministerium, nimmt sie Im Herbst 1924 in Berlin ein Jurastudium auf. Im Oktober 1928 legt sie vor dem Kammergericht Berlin die Referendarprüfung ab. Eine Woche vor Weihnachten im selben Jahr heiraten Gertrud und Wilhelm (Frida war im April 1927 gestorben.)
1929 verbringen sie fast ein halbes Jahr, von April bis November, in Ägypten. Für Wilhelm ist es die sechste (zuvor war er dreimal mit Frida und zweimal allein dort), für Gertrud die erste und einzige Ägyptenreise, in ihren „Briefen aus Ägypten“ anschaulich dokumentiert.
Von 1931 bis 1937 lehrt Wilhelm als Honorarprofessor für Papyruskunde an der Universität Berlin. Gertruds Hauptfinteresse in jenen Jahren gilt dem Brünner Schöffenbuch. Das darin festgeschriebene Eherecht wird ihr Promotionsthema (1933); sie analysiert – im Auftrag der Monumenta Germaniae Historica – den römischen Rechtsgehalt dieses historischen Schöffenbuchs. Die Rechtsstellung der Frau im Deutschen Reich und in Österreich, die Verbreitung deutscher Stadtrechte in Osteuropa sowie Christian Thomasius’ Leben und Werk werden gleichfalls zu wichtigen Forschungsgebieten für sie.
Jahrzehnte lang war das ungleiche Gelehrtenpaar durch wissenschaftliche Arbeit für ihre Fachgebiete, gegenseitige Liebe und Achtung Engste miteinander verbunden. Wie es ihnen gelang, selbst in schwierigsten Situationen, unter repressiven Bedingungen, ja Bedrohungen, integer zu bleiben, darüber redeten sie kaum je – der Autor hat auch das ans Licht gebracht, zum Beispiel anhand von Gertruds Affront gegenüber dem 1935 durch die Nazis „gesäuberten“ Verein deutscher Juristinnen, der bewegenden Biografie von Anne Curtis (einer „Halbjüdin“, der Gertrud und Wilhelm 1937 die Ausreise nach England ermöglichten) und von Gertruds riskantem Austritt aus der „Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands“ im Juni 1951.
Sie wagte diesen Schritt als erste deutsche Frau auf einem juristischen Lehrstuhl (1948–1957) und Dekanin der Juristischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (August 1950 bis Ende 1951). Zu Gertruds akademischen Kindern und Enkeln zählen übrigens die weit über Halle und Deutschland hinaus bekannten und anerkannten Rechtshistoriker Rolf Lieberwirth und Heiner Lück – vor allem letzterer hat ihre Stadtrechtsforschung fortgeführt.
Rüdiger Fikentscher, Mediziner und Politiker, ist als Sohn von Gertrud Fikentschers jüngstem Bruder deren und Wilhelm Schubarts Neffe. Dank seiner akribischen, verständnis- und liebevollen Sichtung des Familienarchivs, vor allem der Tagebücher und Briefe, entstand vor dem Hintergrund historischer Gegebenheiten und Katastrophen des Jahrhunderts dieses anrührende Doppelporträt. Kaiserära, Weimarer Republik, Nazizeit und DDR-Regime haben Privatleben und wissenschaftliche Karriere der beiden geprägt.
Jedem der Kapitel ist ein Zitat vorangestellt, so von Bertolt Brecht über Kinder und Mütter, Fontane über reisen, Goethe über Männer und Frauen, Hebbel über das Streben nach Zielen, Heinrich Heine über Anfänge und über Lust und Liebe, Künste, Abraham Lincoln über das Recht andere zu regieren, Gerhard Marcks über die Ewigkeit, Friedrich Schiller über Religion. Ausführliche Register, Bibliografien und Stammbäume komplettieren das Buch.
► Rüdiger Fikentscher: Liebe Arbeit Einsamkeit. Ein Gelehrtenpaar in zwei Doktaturen, 512 Seiten, mit 50 Abbildungen, Halle 2013, 24,95 Euro, ISBN 978-3-95462-072-2