„Eine Form später Trauer“
Als sich die Jüdin Wera Tubandt im Wintersemester 1899/1900 an der Universität Halle-Wittenberg zum Chemiestudium einschrieb, war sie eine von nur wenigen Frauen, denen dieses Privileg zuteil wurde. Hier lernte sie auch ihren späteren Ehemann Carl Tubandt kennen, einen gebürtigen Hallenser, der am Chemischen Institut das physikalisch-chemische und das elektrochemische Laboratorium aufbaute.
Die Liebe zwischen den beiden muss etwas ganz Besonderes gewesen sein. Denn Carl, der 1931 überdies zum Direktor des Instituts für Physikalische Chemie ernannt worden war, weigerte sich, seine jüdische Frau zu verlassen, als die Nazis das vom ihm verlangten. 1937 schied er aus dem universitären Dienst aus und zog gemeinsam mit seiner Frau zu den beiden Töchtern nach Berlin. Carl Tubandt litt schwer unter dem ihm widerfahrenen Unrecht, erkrankte und starb am 17. Januar 1942. Damit erlosch auch der schwache Schutz, den die Ehe mit einem „Arier“ seiner Frau Wera noch geboten hatte. Sie entzog sich weiterer Verfolgung durch Selbstmord und starb am 9. Februar 1944 im Alter von 63 Jahren.
Seit 2009 erinnert vor Dr. Wera Tubandts einstigem Wohnhaus in der Carl-von-Ossietzky-Straße ein Stolperstein an das Schicksal der Naturwissenschaftlerin. Die heute noch lebenden Nachfahren des Paars haben dort außerdem eine Gedenktafel aufstellen lassen. „Damit soll daran erinnert werden, dass Carl Tubandt zu seiner Frau stand. Deshalb sollen die beiden auch zusammen geehrt werden“, sagt Lutz Wedemann. Der in Berlin lebende Pensionär erfuhr einst durch puren Zufall vom Schicksal des Ehepaars Tubandt. Auf einer Reise lernte er die heute noch lebende Adoptivtochter von Wera Tubandt, Marianne Laube, kennen. Sie ist inzwischen 85 Jahre alt und erzählte ihm die Geschichte ihrer Angehörigen.
„Ich war tief bewegt“, sagt Lutz Wedemann, der noch heute mit der alten Dame befreundet ist. Gemeinsam haben sie den Nachlass der Familie Tubandt gesichtet und ausgewertet und dabei noch viele Original-Dokumente zu Tage gefördert. Gemeinsam waren sie 2009 auch nach Halle gekommen, als der von den Nachfahren gestiftete Stolperstein für Wera Tubandt in der Carl-von-Ossietzky-Straße verlegt wurde.
Ein neuer Stein im Jahr 2013
Eine Form später Trauer“ nennt Heidi Bohley die Aktion „Stolpersteine“. Ihr Verein „Zeit-Geschichte(n)“ betreut das Projekt in Halle und hat seit Beginn im Jahr 2004 die Verlegung von bisher 182 Steinen in die Wege geleitet. In der Langsamkeit der Verlegungen sieht Bohley nach anfänglicher Skepsis einen großen Vorteil: „So rücken immer wieder einzelne Menschen in unser Bewusstsein.“ Sechs Millionen ermordete Juden könne man sich nur schwer vorstellen, so Bohley, „doch die Namen einzelner Menschen, die in unserer Stadt gelebt haben, in Häusern, die es heute noch gibt, machen das Geschehene sichtbar“.
Einmal pro Jahr werden in Halle und auch in allen anderen am Projekt beteiligten Städten Stolpersteine verlegt. „Dafür suchen wir laufend Spenden“, sagt Heidi Bohley. Bei der Auswahl stützt sich ihr Verein auf ein Gedenkbuch für die Toten des Holocaust in Halle, ohne dessen Existenz die Verlegung der Stolpersteine kaum möglich wäre. Darin haben Schüler des Südstadtgymnasiums gemeinsam mit dem Lehrer Volkhard Winkelmann die Schicksale hallescher Juden aufgeführt, die ihre letzte Adresse in der Saalestadt hatten.
In dem Werk, das online zur Verfügung steht, findet sich auch der Name von Prof. Arnold Dan Japha, einem an der Martin-Luther-Universität tätigen Mediziner, der in der Kröllwitzer Schwuchtstraße gemeldet war. Auch ihm wurde 1935 seine Professur entzogen, außerdem drohte ihm die Gestapo später mit der Deportation in ein Konzentrationslager. Daraufhin beging Japha im Mai 1943 Selbstmord. „Seinen Namen haben wir für 2013 auf die Liste der zu verlegenden Stolpersteine gesetzt“, sagt Heidi Bohley. Was die drei bisher für ehemalige Mitarbeiter der halleschen Universität verlegten Stolpersteine angeht, so weist Bohley auf eine Besonderheit hin: Sie sind alle personengebunden gespendet worden. Die Spender wollten aus ganz unterschiedlichen Gründen auf das Schicksal genau dieser drei Menschen aufmerksam machen.
Ein Beispiel dafür sind Sabine und Christian Däschler. Die beiden Hallenser kommen ursprünglich aus dem Schwäbischen und betreiben in Halle ein erfolgreiches Architekturbüro. Als sie vor Jahren in ihr Haus in der Friedenstraße einzogen, wälzten sie gemeinsam alte Archivunterlagen und stießen auf einen einstigen Bewohner: Prof. Dr. Martin Kochmann, den ehemaligen Direktor des Pharmakologischen Instituts der Uni Halle. 1935 wurde er zwangsweise in den Ruhestand versetzt.
Nach einer Verhaftung durch die Gestapo sah er für sich als einzigen Ausweg nur noch den Selbstmord. „Wir haben uns ganz bewusst dafür entschieden, einen Stolperstein für ihn zu spenden“, erzählt Sabine Däschler, nachdem sie gemeinsam mit ihrer Familie zur Zeit ihres Einzugs einiges über das Leben und Wirken von Kochmann recherchiert und gelesen hatte. Die Aktion „Stolpersteine“ sieht sie auch als Möglichkeit, die Menschen, denen so viel Schlimmes angetan wurde, nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.
Ähnlich argumentiert Prof. Dr. Gerhard Lampe, stellvertretender Leiter des Instituts für Medien- und Kommunikationswissenschaften der Uni. Auf seinem täglichen Weg zur Arbeit kommt er im Herzen von Halles Paulusviertel regelmäßig am Stolperstein für Prof. Dr. Max Fleischmann vorbei. Wenn man so will, dann waren Lampe und Fleischmann so etwas wie Berufskollegen, denn schon 1927 gründete der in Breslau geborene Jude Fleischmann in Halle das Institut für Zeitungswesen. Auch er wurde von den Nazis bedroht. Wegen seiner Weigerung, den Judenstern zu tragen, sollte er durch die Gestapo im Januar 1943 in seinem Haus am Rathenauplatz 14 festgenommen werden.
Er entzog sich der Verhaftung durch Flucht in den Tod. Fleischmann, an den in Halle auch ein Straßenname erinnert, war Mitte der zwanziger Jahre nicht nur Rektor der halleschen Universität, er galt auch als großer Wissenschaftler. Nicht zuletzt deshalb sollte ein An-Institut, das Gerhard Lampe einst in Halle gründen wollte, seinen Namen tragen. „Die Pläne dazu sind noch nicht vom Tisch“, sagt Lampe. „Falls es zur Gründung kommt, fände ich es sehr schön, wenn das Institut den Namen von Max Fleischmann tragen würde.“