„Eine fundamentale Fehleinschätzung“
Herr Struve, wie rechtfertigt Putin den Angriff auf die Ukraine?
Kai Struve: Da gibt es verschiedene Begründungen, die miteinander zusammenhängen. Putin hat sich zuletzt öfter zur Ukraine geäußert. Im Juli 2021 veröffentlichte er einen längeren Text über die Beziehungen Russlands und der Ukraine, eine sehr lange Beschreibung der Geschichte vom Mittelalter bis in die Gegenwart. In der letzten Februarwoche hat er die historischen Ausführungen für das 20. Jahrhundert wiederholt. Sein zentrales Argument ist hier, dass es im Grunde keine eigenständige ukrainische Geschichte gibt, sondern sie sehr eng mit Russland verbunden ist. Daraus leitet Putin den Schluss ab, dass es auch jetzt einen gemeinsamen Weg Russlands und der Ukraine geben muss. Damit versucht er, einen russischen Anspruch auf Vorherrschaft zu rechtfertigen.
Und bezogen auf die aktuelle Situation?
Es gibt noch die Vorwürfe, dass die Nato und der Westen versuchen, ihre Einflusszonen auszudehnen und dass dabei Russlands Sicherheitsinteressen nicht ausreichend berücksichtigt werden. Hier ging es in den Forderungen Russlands ebenfalls um die Zusicherung, dass die Ukraine nicht der Nato beitreten solle. Dabei war es auch schon vor dem russischen Angriff klar, dass nicht die Nato eine angebliche Einflusszone ausdehnen will, sondern dass die osteuropäischen Länder und zuletzt auch die Ukraine in die Nato wollten, da sie Sicherheit vor Russland suchten. Dass sie mit ihren Befürchtungen nicht falsch lagen, hat sich nun ja bestätigt.
Hier taucht dann der Gedanke auf, man müsse die Ukraine de-nazifizieren …
Das ist die Begründung, die für viele überraschend klingen mag. Praktisch gesehen ist das eine Forderung nach einem Regierungswechsel zu einer prorussischen Regierung. Dass dies so formuliert wird, hat viel mit historischen oder genauer mit sowjetischen Feinbildern zu tun. Damit befasse ich mich auch in meinem aktuellen Forschungsprojekt. Ganz neu sind diese Bilder nicht. Bereits in den Jahren 2013 und 2014 wurden diese Vorwürfe von russischer Seite stark gemacht. Damals beschuldigte man die Ukrainer, einen „faschistischen Putsch“ durchgeführt zu haben. Der Euromaidan war eine Protestbewegung, die darauf zurückging, dass der damalige prorussische Präsident Wiktor Janukowytsch überraschend ankündigte, ein Partnerschaftsabkommen mit der Europäischen Union vorerst nicht zu unterschreiben. Die sich damit abzeichnende weitere Annäherung an Russland statt an die EU nahm den Menschen die Hoffnung auf eine Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse, vor allem einer Stärkung des Rechtsstaats und der Bekämpfung der Korruption, die unter Janukowytsch noch weiter zugenommen hatte. Daraus entstanden die Proteste. Schließlich floh Janukowytsch nach Russland. Für Russland ist der Euromaidan ein faschistischer Putsch gewesen, den es nie als legitimes Geschehen anerkannt hat.
Das klingt ein wenig so, als wäre jeder, der nicht komplett für Russland ist, ein Faschist und ein Feind.
Das entspricht dem Faschismusbegriff, wie er in der Sowjetunion üblich war. Als besonders üble Art von Faschisten galten in der Sowjetunion Angehörige nationaler Bewegungen sowjetischer Nationen, die eine Loslösung von der Sowjetunion anstrebten. Im ukrainischen Fall kam hinzu, dass es nach dem Zweiten Weltkrieg in den westlichen Gebieten der Ukraine einen bewaffneten Widerstand gegen die Erneuerung der sowjetischen Herrschaft gegeben hatte. Bis 2013/14 gab es hier eine relativ starke politische Polarisierung. Auf der einen Seite stand eine nationale Deutung der Geschichte des 20. Jahrhunderts, die vor allem in der Westukraine an den antisowjetischen Widerstandskampf anknüpfte. Auf der anderen Seite stand eine stärker sowjetisch geprägte Deutung, die im Hinblick auf den Zweiten Weltkrieg den Sieg der Roten Armee über das faschistische Deutschland in den Mittelpunkt stellte. Damit war gleichzeitig das Feindbild der nationalukrainischen Kräfte als Faschisten verbunden. Seitdem aber Russland dieses Feindbild 2014 benutzte, um die Annexion der Krim zu rechtfertigen und im Osten der Ukraine einen Aufstand zu initiieren, und schließlich auch mit eigenen Truppen intervenierte, haben diese sowjetische Deutung der Geschichte und damit auch das Feindbild ihren Einfluss völlig verloren. Gleichzeitig hat dies in den letzten Jahren in der ukrainischen Öffentlichkeit die Voraussetzungen dafür beträchtlich verbessert, eine ernsthafte substantielle Diskussion über tatsächliche faschistische Tendenzen im ukrainischen Nationalismus des 20. Jahrhunderts und begangene Verbrechen zu führen.
Es wird auch immer wieder von einem angeblichen Völkermord gesprochen.
Das ist Teil dieses Propagandabildes und eine Begründung des Kriegs. Zum einen bezieht sich dies offenbar darauf, dass die Bedeutung der russischen Sprache seit 2014 in der Ukraine abgenommen hat. Hier wird unterstellt, dass dies die Folge von Zwang war und damit gewissermaßen zur „Ausrottung“ der russischsprachigen Bevölkerung führen würde. Tatsächlich ist dieser Sprachwechsel in einer überwiegend zweisprachigen Bevölkerung aber in erster Linie ein politisches Statement gegen Russlands Rolle in dem Krieg im Osten der Ukraine, der ja schon 2014 begonnen hat. Zum anderen hat Putin den jetzt begonnenen großen Krieg damit begründet, dass man die Menschen in den Separatistengebieten Donezk und Luhansk vor einem ukrainischen Angriff und drohenden Genozid durch die ukrainischen Nationalisten schützen müsse. Damit knüpft Putin an das sowjetische Feindbild der ukrainischen Nationalisten als brutalen deutschen Henkersknechten während der deutschen Okkupation im Zweiten Weltkrieg an.
Hat man sich auf russischer Seite seit dem Kalten Krieg immer wieder an demselben Feindbild abgearbeitet?
Das Feindbild entstand bereits in den 1920er Jahren. Während der Revolution in Russland nach dem Ersten Weltkrieg gab es in der Ukraine wie in vielen anderen Gebieten eine Bewegung, die einen selbstständigen ukrainischen Staat anstrebte. Sie war hier der stärkste Gegner der Bolschewiki. Letztlich konnte sie sich aber nicht gegenüber der Roten Armee durchsetzen und die Folge war, dass die Ukraine in die Sowjetunion integriert wurde.
Ist der Krieg für Sie überraschend gekommen?
Für mich ist der Krieg in dieser Form wie für fast alle sehr überraschend gekommen. Nicht überraschend wäre eine weitere Eskalation an der Kontaktlinie zu den „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk gewesen. Was ich nicht erwartet habe, ist der Versuch, einen großen Krieg gegen die Ukraine zu führen und sie ganz oder zu großen Teilen zu besetzen. Eigentlich war es absehbar, dass der Widerstand zu groß ist und die ukrainische Bevölkerung das nicht akzeptieren wird. Das war eine fundamentale Fehleinschätzung Putins, die mit einem falschen Bild der Ukraine zu tun hat und die man letztlich auch auf dieses alte sowjetische Feindbild zurückführen kann. Offenbar erwartete man, dass es zu einem kurzen Krieg mit wenig Widerstand kommen wird, weil die ukrainische Bevölkerung die Nationalisten als eine fremde, von Feinden gesteuerte Macht ansieht. Putin ist immer noch in diesen alten Feindbildern verfangen.
Zur Person
PD Dr. Kai Struve forscht seit 2008 an der MLU, seit 2014 ist er hier Privatdozent am Institut für Geschichte. Struve arbeitet im Rahmen mehrerer Drittmittelprojekte zur Geschichte Ost- und Mitteleuropas des 20. Jahrhunderts. Aktuell arbeitet er zur Darstellung des ukrainischen Nationalismus in der Sowjetunion.