Ethnologie-Studierende im Team mit Bürgerforschern
Ulrich Mang hat eine ziemlich genaue Vorstellung von seiner Forschung. „Mein Wunsch ist, die Jugend in den Blick zu nehmen“, sagt der 33-Jährige. Dafür wird der Ethnologie-Student in den kommenden Monaten nicht nur in Hörsälen oder Seminarräumen, sondern auch im halleschen Kiez unterwegs sein. Mang ist einer der Teilnehmer des Projektes „Gute Nachbarschaften in Halle (Saale)? Eine Bestandsaufnahme“. Gemeinsam mit Bürgerforschern wird er in der südlichen Innenstadt im Bereich Schlosserstraße/Thüringer Bahnhof das gesellschaftliche Zusammenleben in Halle untersuchen. „Das Attraktive ist, dass ich nicht nur Methodik theoretisch gelehrt bekomme, sondern das Wissen auch anwenden kann und dass das vor Ort geschieht“, sagt er. Die Nachbarschafts-Forschung ist ein Citizen-Science-Projekt und Teil der Initiative „OpenLabnet – Make Science!“ in Halle. Sie wird durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung mit 7.000 Euro gefördert. Partner des Seminars für Ethnologie an der MLU sind der Ausländerbeirat der Stadt, der Verband der Migrantenorganisationen Halle (Saale) und der Friedenskreis Halle.
Ausgangspunkt war im vergangenen Jahr eine Anfrage des neugewählten Ausländerbeirates, sagt Ronn Müller vom Verband der Migrantenorganisationen, selbst MLU-Alumnus und auch Mitarbeiter der Uni. Thema war das nachbarschaftliche Zusammenleben verschiedener Nationalitäten in Halle und der städtische Umgang damit. Über seinen Kontakt zur „Netzwerkstelle Ethnologie und Praxis“ an der MLU kam die Idee eines Citizen-Science-Projekts auf. Die Netzwerkstelle wurde 2017 am Seminar für Ethnologie gegründet und bietet Studierenden neben Beratungen zur beruflichen Orientierung unter anderem Möglichkeiten, das Studium mitzugestalten und sich mit anwendungsbezogenen Aspekten des Fachs auseinanderzusetzen.
Während einer Auftaktveranstaltung Ende 2018 und eines Blockseminars Ende Januar wurden die Teilnehmer des neuen Projekts, also Studierende und interessierte Bürger, unter anderem theoretisch und methodisch geschult. Nach ersten Recherchen zu Statistiken und der Wahrnehmung einzelner Stadtteile in den Medien steht nun Feldforschung an: teilnehmendes Beobachten, Fotos, Interviews. Mang hat bereits Gespräche geführt – zum Beispiel zu einem Projekt der Arbeiterwohlfahrt, das sich mit der Integration von Roma beschäftigt.
Insgesamt sind derzeit rund 15 Studierende und 15 Bürgerforscherinnen und -forscher beteiligt, die sich in fünf Gruppen in der nördlichen Neustadt, der südlichen Neustadt, der Silberhöhe, der südlichen Innenstadt und der Innenstadt mit dem nachbarschaftlichen Zusammenleben, Unterschieden und Gemeinsamkeiten sowie den Perspektiven der dort lebenden oder arbeitenden Menschen befassen. „Die Innenstadt-Gruppe wird sich auch migrantisch geführte Unternehmen anschauen, die das Stadtbild neu prägen“, sagt Müller. Jedes Team hat einen Ansprechpartner, der mit Kontakten und Netzwerken, aber auch beim Entwickeln von Fragestellungen unterstützt.
Einer der Bürgerforscher ist mit Ibrahim Boubacar ein ursprünglich aus dem Niger stammender Mann, der seit rund 15 Jahren in Deutschland lebt und gerade seinen Bundesfreiwilligendienst im Verband der Migrantenorganisationen leistet. „Ich habe keine Sekunde gezögert. Gerade das Thema gute Nachbarschaft finde ich unheimlich wichtig“, sagt der Mann, der in dem Projekt von einem besonderen Zugang zu Migranten profitiert. Bei ihrer Arbeit nutzen die Studierenden und Bürgerforscher im Übrigen auch Ergebnisse aus einem vorhergehenden ähnlichen Projekt des Friedenskreises Halle.
„Gute Nachbarschaften in Halle“ läuft bis Ende 2019, die Ergebnisse und daraus resultierende Handlungsempfehlungen – zum Beispiel für aktive Migrationspolitik – sollen dem Präventionsrat der Stadt zur Verfügung gestellt werden. Vorteile hat das Projekt allerdings nicht nur für die Kommune. Dass Studierende mit Bürgerinnen und Bürgern zusammenarbeiten, voneinander lernen, sei eine neue Erfahrung. „Das bringt einen Perspektivwechsel in unsere Lehre und unsere Forschung“, sagt Stefanie Bognitz, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der „Netzwerkstelle Ethnologie und Praxis“ an der MLU. Alle Teilnehmer seien schließlich auch Bürger der Stadt Halle, arbeiten oder studieren hier und lernen über die eigene Forschung hinaus auch den verantwortungsvollen Umgang mit Menschen „im Feld“. Wichtig sei, dass „Ethnologie vor Ort“ praktiziert werde – viele Ethnologen forschen eher außerhalb Europas. In ihrem Fach sei es in Halle im Übrigen das erste Mal, dass Bürgerforschern auch ein Zugang zur Universität geschaffen werde, so Bognitz.