Expedition vor 80 Jahren: Von Halle in den Hindukusch
Der Brief ist datiert vom 11. Januar 1935. Darin bittet der hallesche Agrarwissenschaftler und Pflanzenzüchter Prof. Dr. Theodor Roemer die Direktion der seinerzeit noch in Halle ansässigen Schokoladen-Firma Most GmbH um Unterstützung für ein Projekt, das bis dato seines gleichen suchte. „Als eisernen Proviant brauchen wir 200 Tafeln bitterer Schokolade und ca. 10 Kilogramm Kakao“, heißt es in dem Bittschreiben. Unendlich viele solcher Briefe finden sich in den acht Aktenordnern, die im Archiv der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina zu diesem Projekt lagern. Darin ist minutiös dokumentiert, welch enormer Aufwand seinerzeit in Halle betrieben worden ist, um die bis heute erste und einzige Expedition deutscher Wissenschaftler in die Hindukusch-Region vorzubereiten.
Offenbar hat ein Großteil der von Theodor Roemer angesprochenen Firmen die Bitte um Unterstützung positiv beschieden. Denn aus den Akten geht ebenfalls hervor, dass nicht nur die besagte Most-Schokolade sondern auch Burger Knäckebrot und Kerzen der Riebeckschen Montanwerke AG aus Halle zum gewaltigen Fundus aus Proviant und Verbrauchsmitteln der Expedition gehörten.
Saatgut sammeln am Hindukusch
Die Akten offenbaren auch: So oft den Bitten der halleschen Forscher entsprochen wurde, so grotesk muten aus heutiger Sicht mitunter die Folgen an. Denn zumindest einige Firmen wollten eine Gegenleistung für ihre Unterstützung. Ein Beispiel dafür ist eine Firma aus Solingen, die den Wissenschaftlern Klingen zur Verfügung stellte. Dafür sollten sie in Afghanistan Fotos anfertigen, auf denen Einheimische zu sehen sind, die mit den Klingen und einer ebenfalls mitgelieferten Schneidemaschine ihre Haare schneiden. Die Bilder sollten später in Solingen zu Werbezwecken dienen.
Doch so einfach war das nicht, denn die Afghanen lehnten es offenbar ab, sich mit einem solch fremd anmutenden Gerät traktieren zu lassen. Um dennoch dem Wunsch der Sponsoren zu entsprechen, bearbeiteten die Expeditionsmitglieder ihre Köpfe schließlich gegenseitig mit besagter Haarschneidemaschine. Die Fotos, die diesen Vorgang belegen, sind ebenfalls erhalten geblieben und auf der Website www.phototheca-afghanica.ch öffentlich zugänglich.
Auch ohne, dass es irgendwo explizit steht, wird schnell klar, dass Theodor Roemer im Vorfeld offenbar Feuer und Flamme für das von ihm initiierte Projekt gewesen sein muss. „Er war ein sehr unternehmungsfreudiger Mensch mit einem riesigen Arbeitspensum“, sagt Paul Bucherer-Dietschi vom Afghanistan-Institut in der Schweiz. Bucherer-Dietschi muss es wissen, denn seit 1975 beschäftigt er sich wissenschaftlich mit Afghanistan und seiner Geschichte. Auch besagte Hindukusch-Expedition hat er minutiös untersucht. Seine Recherchen führten ihn dabei nach Halle.
Es sei beileibe kein Selbstläufer gewesen, zur damaligen Zeit ein solch riesiges Projekt vorzubereiten und durchzuführen. Vor allem die Devisenbeschaffung war nicht leicht. Immerhin wurden für die Durchführung der Expedition rund 50.000 Reichsmark benötigt. Geld, das die beiden halleschen Forscher Roemer und Troll gut angelegt sahen. Denn ihrer Ansicht nach gab es gewichtige Gründe, in die Hindukusch-Region vorzudringen. Nach der damals vorherrschenden Theorie galt diese Gegend als Ursprung hiesiger Kulturpflanzen. Hauptzweck der Expedition sollte daher sein, Saatgut dort beheimateter Pflanzen zu sammeln, um der Pflanzenzüchtung in Deutschland genetisches Material mit neuen oder verloren gegangenen Erbfaktoren zur Verfügung zu stellen.
An der Expedition selbst nahmen dann übrigens weder Roemer noch Troll teil. Als Leiter war ursprünglich der seinerzeit bereits in Halle tätige und spätere Leopoldina-Präsident Kurt Mothes vorgesehen. Doch er bekam eine Professur in Königsberg, so dass an seiner statt der Gießener Botaniker Arnold Scheibe zum Zuge kam. Mit ihm reisten auch zwei hallesche Forscher, nämlich der Diplomlandwirt Dr. Werner Roemer, eine Neffe Theodors, sowie der Botaniker Dr. Gerhard Kerstan.
Mit Dienern und Köchen unterwegs
Am 28. Februar 1935 brach das interdisziplinär besetzte Team per Bahn nach Genua auf, von wo aus man mit dem Schiff weiterreiste. Einen Monat später, am 29. März 1935, trafen die Wissenschaftler in Afghanistan ein. Zum Tross gehörten fortan neben den sechs deutschen Forschern noch fünf Diener und Köche, 16 Soldaten und drei Offiziere zum Schutz sowie ein Dolmetscher.
Für sie alle galt es, die Route durch das unwegsame Gelände zu bewältigen. Oft gab es keine befahrbare Straße, ging es durch Täler und über Pässe, anfangs mit Maultieren, später dann, als die Wege noch schmaler wurden und in den Höhenlagen Schnee hinzukam, mit Trägern. Was das für eine Leistung war, wird deutlich, wenn man bedenkt, dass der Tross rund zwei LKW-Ladungen voll mit Gepäck bei sich hatte.
Unter dem, was es zu befördern galt, waren auch rund 150 Kilogramm Geld in Münzen. Davon mussten Träger und Diener bezahlt werden. Jedoch kannte man in Afghanistan zur damaligen Zeit kein Papiergeld, was den Aufwand für die Crew bei der Auszahlung deutlich erhöhte.
Aufgrund der guten Haushaltsführung, das belegen Rechnungen, wurde es schließlich sogar möglich, die Expedition um zwei Monate zu verlängern. Nach insgesamt zehn Monaten brachten die Expeditionsteilnehmer kurz vor Weihnachten 1935 rund 4.500 Saatgutproben und Stecklinge sowie mehr als 10.000 Fotos mit nach Deutschland. Mehr als 60 Pflanzen, die der Botaniker Kerstan in Afghanistan und Pakistan sammelte, lagern heute im Herbarium der Uni Halle.
Das gesammelte Material zur wissenschaftlichen Bearbeitung an Universitätsinstitute und Forschungsanstalten weitergegeben, was eine rege Versuchstätigkeit zur Folge hatte. Nicht alle Forschungsprojekte konnten beendet werden, so ist ein Teil des Saatguts durch den Krieg verloren gegangen. Ein anderer lagert bis heute im Leibniz-Institut für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung in Gatersleben und dient dort noch immer als wissenschaftliches Referenzmaterial für die Forschung.
Trotz ihres Erfolgs ist die Expedition heute fast vergessen. „Es ist schade, dass die größte naturwissenschaftliche Expedition, die je in Afghanistan durchgeführt worden ist, so wenig Beachtung findet“, sagt Paul Bucherer-Dietschi. Dies, so meint er, könne auch daran liegen, dass gerade ostdeutsche Wissenschaftler der Meinung seien, die Expedition habe unter dem Einfluss der Nazis gestanden. Bucherer-Dietschi: „Diese falsche Einschätzung lastet seit jeher auf dieser Expedition“, sagt der Experte und ergänzt: „Ich habe in den Akten keine Hinweise gefunden, dass die NSDAP oder andere Naziorganisationen bei der Vorbereitung oder Durchführung ihre Hände im Spiel hatten.“
Kommentare
Dietmar Mothes am 23.08.2021 07:17
Ich habe von dieser Expedition auch noch ein Fotoalbum. Dieses wurde von einem Teilnehmer an meinen Großvater Kurt Mothes geschenkt.
Dieses Album werden wir dem Leopoldina Archiv mit weiteren Alben übergeben.
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