Frühe akademische Netzwerkpflege
Friedrich Ludwig Jahn war ein Naturmensch: Der Pfarrerssohn aus der Prignitz studierte in Halle Theologie. Während dieser Zeit unternahm er ausgedehnte Touren durch Halles Norden und das Saaletal. Nachzulesen ist das im Stammbuch seines Kommilitonen Karl Friedrich Ferdinand Tiebel, in dem sich der später als „Turnvater“ bekannt gewordene Jahn wortreich verewigte. Am 24. August 1798 schrieb er: „Zur Erinnerung an unser akademisches Leben. Unsere Spaziergänge. Giebichenstein. Die fast täglichen Gänge dahin im Jahr 97. Die ehrwürdigen Ruinen der Burg, wo wir oft den Untergang der Sonne abwarteten.“ Außerdem erinnerte Jahn an den Ochsenberg, an diverse Gärten in Kröllwitz, das damals noch nicht zum Stadtgebiet gehörte, an die Dölauer Heide und an ein Hölzchen bei Lettin.
Stammbücher wie dieses sind ein frühes Zeugnis akademischer Netzwerkpflege. Sie wurden seit dem 16. Jahrhundert von adeligen jungen Männern geführt. Später entdeckten auch die Angehörigen der bürgerlichen Schicht diese „Alba amicorum“ (Freundesalben) für sich. Letzter Ausläufer dieser Tradition sind die heute noch von vielen Kindern geführten Freundschaftsbücher.
Mit Stammbüchern gelang es, sowohl oberflächliche Kontakte, aber auch komplette Beziehungsnetzwerke zu dokumentieren. Außerdem dienten sie zur Wahrung von Erinnerungen. Festgehalten wurde der Alltag jener Zeit: Die Einträge beschäftigen sich zum Beispiel mit einem Aufenthalt im Karzer: „Ach, ach, ach, wie ist mir so miserabel“ oder mit den feucht-fröhlichen Seiten des Studentenlebens: „Studenten sind fidele Brüder, kein Unfall stürzt sie ganz darnieder.“
Verewigt haben sich Kommilitonen und auch der Lehrkörper. So finden sich in der Sammlung der ULB auch Raritäten wie die Einträge berühmter hallescher Universitätsprofessoren, unter ihnen Christian Thomasius, Christian Wolff und August Hermann Francke. Zumeist sind es Sinnsprüche, die die Gelehrten hinterlassen. So schrieb Francke 1725 in das Stammbuch des Studenten Johann Hattermann: „Ringet danach, dass ihr durch die enge Pforte eingehet.“
Darüber hinaus waren die Stammbücher auch Mittel zur Selbstdarstellung. Oft wurden sie aufwändig gestaltet, so wie jenes Exemplar, das eine farbenfrohe Zeichnung des halleschen Marktplatzes zeigt, auf der auch die Hirschapotheke zu sehen ist, die heute noch an jener Stelle firmiert. „Es gehört zu meinen Lieblingsexemplaren“, sagt Dr. Hans Stula, der frühere Besitzer des zugehörigen Stammbuchs. 2016 hat der gebürtige Hallenser, der seit 1959 in Hannover lebt, seine Sammlung an die ULB verkauft. „Ich bin froh, dass dadurch alle Stücke aus meinem privaten Fundus zusammenbleiben. Und auch darüber, dass sie nun der Forschung zur Verfügung stehen“, so Stula.
Durch den Ankauf verfügt die ULB heute über einen der größten und wertvollsten Bestände auf diesem Gebiet. Viele Stammbücher haben einen langen Weg hinter sich. So auch besagtes Blatt mit der Zeichnung vom halleschen Markt, das Stula bereits zu DDR-Zeiten den damals noch in Westberlin lebenden Nachkommen des einstigen Besitzers der Hirschapotheke abkaufte. Oft, so meint er, ähneln sich die Abbildungen in den Stammbüchern. Was die Vermutung nahelegt, dass es in Halle zu jener Zeit professionelle Stammbuchmaler gegeben haben muss. „Diese sind bisher allerdings namenlos geblieben. Ihre Herkunft zu ergründen, könnte eine Aufgabe künftiger Erforschung werden“, so Stula, der im Zuge seiner Sammlerleidenschaft auf weitere Auffälligkeiten gestoßen ist: Das verwendete Papier stammt oft aus der am Kröllwitzer Saaleufer ansässigen Papierfabrik der Familie Keferstein, wie die Wasserzeichen des Papiers belegten.
Auch hinsichtlich der inhaltlichen Gestaltung ergeben sich interessante Aspekte: So widmeten sich die Autoren der Einträge ihrer Aufgabe mit höchst unterschiedlichem Engagement. Ein Beispiel für besonders geringen Aufwand liefert der Universitätsprofessor und Sohn von August Hermann Francke, Gotthilf August, der in seinen Beiträgen offenbar stets den gleichen kurzen Spruch verwendete.
Allein rund 12.000 hallesche Einträge hat Dr. Walter Müller, Fachreferent in der ULB, bei einer ersten Sichtung des neuen Bestands gezählt. Seit rund 20 Jahren ist der Historiker in den Ankauf von Stammbüchern für die ULB involviert. Viele davon sind inzwischen auch online anzuschauen. Und es ist geplant, sukzessive alle Exemplare auf diesem Weg öffentlich zugänglich zu machen. Dies sei jedoch nur ein erster Schritt: Müller: „Mit der wissenschaftlichen Erschließung dieses umfangreichen Bestands wird die Forschung noch über Jahre zu tun haben.“
Öffnungszeiten
Die Ausstellung unter dem Titel „Nicht zum Fressen, nicht zum Saufen, sondern Weisheit einzukaufen… Hallische Universitätsgeschichte in Stammbücher“ ist noch bis zum 14. Januar im Technischen Halloren- und Salinemuseum, Mansfelder Straße 52, zu sehen.
Öffnungszeiten: jeweils Dienstag bis Sonntag von 10 bis 17 Uhr, an den Feiertagen bleibt das Museum geschlossen.
Der Eintritt kostet 4,20 Euro.
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