Gen-Schere und Hirsch-Faktor: Disputation zur Forschungsfreiheit
Gut gefüllt präsentierte sich die Aula im Löwengebäude zu Beginn der Disputation: Professoren, wissenschaftliche Mitarbeiter, Studierende, Vertreter aus Politik und Gesellschaft – und auch 35 Wittenbergerinnen und Wittenberger, die mit einem extra eingesetzten Bus nach Halle gekommen waren. - Sie alle wollten den Argumenten und Gegenreden der vier Disputanten zuhören. Nichts Geringeres als die Forschungsfreiheit und deren Grenzen standen auf dem Programm. „Ein Herzensthema für jeden Wissenschaftler“, wie der hallesche Jurist Prof. Dr. Winfried Kluth, Organisator der diesjährigen Disputation, zu Beginn feststellte.
Rektor Prof. Dr. Udo Sträter begrüßte als Hausherr die Anwesenden. Er freute sich besonders über die 35 Bürger aus Wittenberg, die zuvor schon in mehreren Touren die hallesche Universität erkundet hatten. Dass die Disputation in diesem Jahr am 18. Oktober stattfinde, sei kein Zufall, so Sträter. Am 18. Oktober 1502 wurde die Leucorea in Wittenberg gegründet. Die Wittenberger müssten sich indes für die kommenden Jahre keine Sorgen machen. Die Disputation finde nur in diesem Jahr wegen der zahlreichen Festveranstaltungen am Reformationstag nicht in Wittenberg statt. Das sei „kein Schritt weg von Wittenberg“, betonte der Rektor. Gleichzeitig verwies er auf ein weiteres Jubiläum im Jahr 2017: Neben dem Reformationsjahr und der 200. Wiederkehr der Vereinigung der Universitäten Halle und Wittenberg feierte auch die Disputation ihre 25. Auflage.
Die Grüße der Landesregierung überbrachte der Minister für Wissenschaft, Wirtschaft und Digitalisierung des Landes Sachsen-Anhalt Prof. Dr. Armin Willingmann. Er warb für eine intensivere Kooperationen zwischen Wissenschaft und Wirtschaft, ohne dass dabei Abhängigkeiten entstehen dürften.
Auch die Oberbürgermeister der Städte Halle und Wittenberg waren zur Disputation gekommen. Im Namen der Stadt Halle hieß Dr. Bernd Wiegand die Gäste willkommen und würdigte die Universität als wichtigen Teil der Stadt, der auch zur wirtschaftlichen Entwicklung beiträgt. Im Namen der Wittenberger Bürgerinnen und Bürger bedankte sich Torsten Zugehör für die Gelegenheit, Halle und die Universität zu erkunden. Er bedankte sich für das „vertrauensvolle Miteinander“ mit der Universität und entkräftete die Befürchtungen einiger Bürger in Wittenberg, dass durch die Verlegung des Veranstaltungsorts der Disputation das akademische Leben aus der Lutherstadt gänzlich verschwinden könnte: So lud er die Anwesenden denn auch direkt zur nächsten Disputation am 31. Oktober 2018 wieder nach Wittenberg ein.
Dann begann das eigentliche Streitgespräch: Thesengeber war in diesem Jahr der Rechtswissenschaftler Prof. Dr. Max-Emanuel Geis von der Universität Erlangen-Nürnberg, ein angesehener Experte in Fragen der Wissenschafts- und Hochschulrechts. Geis skizzierte, wie die Freiheit der Forschung heutzutage begrenzt wird. Dies geschehe in der Regel nicht durch direkte Gebote oder Verbote: Hochschulen etwa versuchten, die Forschungsarbeit ihrer Angehörigen gemäß ihrer Forschungsstrategien durch zusätzliche Gelder zu lenken. Auch Forschungsprogramme von Drittmittelgebern hätten nicht selten eine spezifische thematische Ausrichtung.
Der Jurist kritisierte vielmehr den Versuch, wissenschaftliche Leistung anhand scheinbar rationaler Indikatoren zu messen. Der Hirsch-Faktor zum Beispiel, ein Maß für die Anzahl an zitierten Publikationen eines Wissenschaftlers, gebe keinen Aufschluss über die wissenschaftliche Qualität einer Person. Stattdessen schreibe er indirekt vor, Forscher sollten in Journalen publizieren, die häufig zitiert werden. Auch das schränke die Freiheit der Forschung ein – schließlich gehöre die Entscheidung, ob und in welchen Journalen man publiziert, ebenso zur Entscheidung der Forscher wie die Wahl ihres Fachgebiets.
Geis lehnte es zudem ab, dass die Gesellschaft darüber befinden solle, welche Forschung sie für relevant hält und dass sie entsprechende Grenzen setzt. Große Sympathien hegte er aber für mit Wissenschaftlern besetzte Ethikkommissionen.
Die Verbindung zu Wissenschaft und wissenschaftlicher Politikberatung steuerte die hallesche Pflanzengenetikerin Prof. Dr. Ulla Bonas bei, die seit 2015 auch Vize-Präsidentin der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina ist. Sie erläuterte zunächst die Möglichkeiten der Genom-Editierung, zu der sie selbst beigetragen hat. „Es gibt keine risikofreie Forschung“, fasste Bonas ihre Erfahrungen aus vielen Diskussionen und Workshops zusammen. Außerdem schloss sie sich der Kritik am Hirsch-Faktor an.
Das erste richtige Kontra gab es von Prof. Dr. Matthias Kaufmann, der sich als Philosoph an der Universität Halle etwa mit Fragen der Bioethik befasst. „Wissenschaftliche Erkenntnis ist demokratisch“, stellte Kaufmann fest. Gesichertes Wissen entstehe nur durch Debatten und die Möglichkeit einer permanenten Selbstkontrolle. Gleichzeitig ließe sich die wissenschaftliche Gemeinde nicht von der Gesellschaft trennen. Am Beispiel von Galileo Galilei, so Kaufmann, könne man die Folgen sehen, wenn Wissen demokratisch verfasst ist.
Der Landtagsabgeordnete Hendrik Lange griff diesen Punkt auf und bekräftigte: „Wissenschaft ist in einen gesellschaftlichen Kontext eingebettet.“ Deshalb sei es auch legitim, dass die Politik der Forschung Grenzen vorgibt. Das Grundgesetz rechtfertige aus seiner Sicht zum Beispiel auch die Einführung von verbindlichen Zivilklauseln an Universitäten, die ihnen die Forschung an militärisch verwertbaren Arbeiten untersagen.
In seinem abschließenden Statement griff Geis noch einmal einige Argumente seiner Mit-Disputanten auf und verlieh der Veranstaltung eine gewisse Lebendigkeit. An Ulla Bonas gerichtet unterstrich er seine Kritik am Hirsch-Faktor. Er beobachte als Mitglied von Berufungskommissionen immer wieder, dass dieser unter Zeitdruck zur Bewertung verwendet werde. Das Galileo-Beispiel des Philosophie-Professors Kaufmann sei nicht geeignet, da die wissenschaftliche Gemeinschaft heute wesentlich weiter entwickelt sei als damals. Heute würde man Kontrahenten nicht mehr mit dem Scheiterhaufen drohen. Und statt einer Zivilklausel könne es aus seiner Sicht nur eine Reflexionsklausel geben, die die Forscher zum Nachdenken motiviere. Alles andere sei mit dem Gesetz nicht vereinbar.