Gewissen im Alltag – Segen statt Fluch?
Das Gewissen – ein Thema für die Soziologie? Auf jeden Fall, finden Dr. Sylvia Terpe, Marcus Heise und Prof. Dr. Helmut Thome vom Institut für Soziologie der MLU. Denn diese blicke zwar auf eine lange Tradition der Werteforschung zurück, eine emotionale Bindung an solche Werte sei bislang jedoch weitgehend unberücksichtigt geblieben. „Dabei hat bereits Émile Durkheim darauf hingewiesen, dass Gefühle ein sehr guter Indikator für die tatsächliche Geltung von moralischen Werten sind“, so Terpe.
„Mit dem Zugang über die Gewissensregungen der Menschen wollen wir mehr erfahren über die Verbindung von moralischen Vorstellungen und Gefühlen – und letztlich darüber, was Personen wirklich bewegt und was sie als wertvoll erachten.“
Solche Einblicke sollen die Ergebnisse der Befragung „Moral und Gewissen im heutigen Leben“ zutage fördern, die die Forscher im Rahmen ihrer Studie „Ausdrucksformen und Funktionsweisen des Gewissens im Alltag“ in der halleschen Bevölkerung durchgeführt haben.
Nach einer Test-Umfrage unter 97 Angestellten der MLU und neun Test-Interviews zur Erprobung und Entwicklung der Fragen kamen im Rahmen der Hauptbefragung im Sommer und Herbst vergangenen Jahres 1149 ausgefüllte Fragebogen und 31 ausführliche Interviews zusammen. Es antworteten Hallenser im Alter von 17 bis 92 Jahren mit verschiedensten Bildungs- und Erwerbshintergründen. Die Studie wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert.
Eine erste Sichtung des Materials ließ einen engen Zusammenhang zwischen den Gewissensregungen und dem Alter erkennen. „Mit steigendem Alter der Befragten nimmt nicht nur die Häufigkeit von Gewissensregungen ab; das Gewissen wird auch zunehmend als positiv, als ermutigend und bestärkend wahrgenommen“, berichtet Terpe. Darüber hinaus scheint auch die Wertorientierung altersabhängig zu sein. „Während die jüngeren Befragten eher leistungsorientiert sind und Unabhängigkeit wertschätzen, fühlen sich ältere Umfrage-Teilnehmer eher konservativen Werten verpflichtet. Das deutet darauf hin, dass je nach Lebensalter verschiedene Auslöser das Gewissen aktivieren.“
Um die Auswertung dieser Fülle an Material überhaupt möglich zu machen, die Reichweite der gegebenen Antworten erfassen und Phänomene wie das mit dem Alter variierende Gewissenserleben erklären zu können, müssen die Antworten kodiert werden. „Knapp 500 Hallenser haben zudem in eigenen Worten eine Situation geschildert, in der sie ihr Gewissen bemerkt haben. Diese Antworten sortieren wir in verschiedene Kategorien wie angesprochene moralische Prinzipien und Gefühle und ob und mit wem diese Erlebnisse kommuniziert wurden“, so Terpe.
Die größte Herausforderung für die Forscher besteht in der Entwicklung neuer Analysedimensionen. Die Soziologin setzt sich zu diesem Zweck regelmäßig mit themenfremden Wissenschaftlerinnen zusammen, um gemeinsam mit Mitteln der Hermeneutik Interviewpassagen und Textantworten sequenziell zu interpretieren. So entwickeln die Forscher unterschiedliche Lesarten und versuchen die Sinngehalte der Aussagen zu rekonstruieren. „Der Blick von mehreren Personen ist notwendig, um Neues im Material entdecken zu können. Andernfalls läuft man Gefahr, nur das zu sehen, was die eigene ‚theoretische Brille’ sehen will“, erklärt sie.
Bei der voranschreitenden Auswertung kristallisiert sich besonders ein Aspekt heraus. „Die vielen positiven Gedanken und Gefühle im Zusammenhang mit dem persönlichen Gewissenserleben überraschen uns“, berichtet Terpe. Etwa vier von zehn Befragten geben an, ihr Gewissen als primär positiv zu empfinden; nur jeder Fünfte nimmt es vor allem als negativ wahr. Knapp ein Drittel verbindet mit seinem Gewissen sowohl positive als auch negative Gedanken und Gefühle.
„Die Befragten beziehen sich dabei auf zwei unterschiedliche Funktionen des Gewissens: Die einen verstehen es als moralische Instanz, die klar vorgibt, was richtig und falsch, gut und schlecht ist. Andere schildern, dass ihr Gewissen vor allem Prozesse der Reflexion über Moral in Gang setzt, sie dazu bringt, zu hinterfragen, ob dieses oder jenes moralische Prinzip in bestimmten Situationen oder generell angemessen ist“, erklärt die Soziologin. „Beide Funktionen werden als wichtig und notwendig wahrgenommen.“
Ein nicht geringer Teil der Befragten scheint das Gewissen also nicht schlicht negativ als den nagenden „Gewissensbiss“ wahrzunehmen; die mahnende Funktion wird von vielen als richtungsweisend und hilfreich geschätzt. „Gelingt es den Befragten, der Mahnung des Gewissens nachzukommen, stellt sich eine ganze Reihe positiver Gefühle ein, etwa Erleichterung, Stolz, Freude oder Wohlbefinden. Es lässt sich vermuten, dass diese positiven Gefühle dazu beitragen, dass Menschen ihren Ideen vom Guten und Richtigen auch weiterhin folgen“, erklärte Terpe.
Nicht weniger erfreulich ist, was dieses Ergebnis implizit enthält: Wir haben noch Werte und Ideale und bemühen uns um sie.