In memoriam Hans-Hermann Hartwich
Als Hans-Hermann Hartwich im Jahr 1991 an die Martin-Luther-Universität kam, war das für ihn persönlich wie ein Schritt der Heimkehr. In Mecklenburg gebürtig, war er nach dem Krieg, nach dreijähriger Gefangenschaft in einem NKWD-Sonderlager, nach Westdeutschland bzw. Westberlin gegangen. Doch nach der Öffnung der Mauer hat er sich, wie er hernach im Kreis der Kollegen erzählte, spontan ins Auto gesetzt und ist, im Gepäck das Nötigste, „hinübergefahren“.
Dass aus dieser kurzen Exkursion in den Osten Deutschlands eine längere, etwa fünfjährige Verweildauer an der Martin-Luther-Universität wurde, war für diese in mehrfacher Hinsicht ein großer Gewinn. Hans-Hermann Hartwich hatte vor der deutschen Wiedervereinigung in der Bundesrepublik längst eine Karriere als anerkannter Hochschullehrer gemacht. Nach dem Studium der Politikwissenschaft und Volkswirtschaft war er an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der FU Berlin promoviert und habilitiert worden. Auf seinen Dr. rer. pol. ist Hartwich stets stolz gewesen.
Seine Abhandlung „Sozialstaatspostulat und gesellschaftlicher Status Quo“, als Buch erstmals 1970 erschienen, bereicherte seinerzeit die akademisch wie politisch kontrovers geführte Debatte um Konkretion und Reichweite der konstitutionellen Normvorgaben für den sozialpflichtigen Staat und blieb lange ein politikwissenschaftliches Standardwerk. Die von ihm mitherausgegebenen fünf Bände „Regieren in der Bundesrepublik“ stellen einen Markstein in der theoriegeleiteten empirischen Analyse des politisch-administrativen Systems dar. Die hier versammelten Beiträge dürfen mit Fug und Recht als Vorläufer der später unter dem Leitbegriff der Governance versammelten Politikforschung angesehen werden.
Die wissenschaftliche Reputation, die der renommierte Vertreter seines Faches mitbrachte, war für das in Halle nach dem Umbruch von 1989/90 neu gegründete Institut für Politikwissenschaft ein wertvolles Startkapital. Als nicht minder wichtig und in manchem wegweisend für die sich zur gleichen Zeit aus den Zwängen des SED-Staates befreiende Martin-Luther-Universität erwies sich Hartwichs Tätigkeit als Hochschulerneuerer: In seinen Ämtern als erster Institutsdirektor und als Gründungsdekan der Philosophischen Fakultät I, als Mitglied des Senats und als Prorektor für Entwicklungsplanung und Strukturreform sowie etlicher Berufungskommissionen hat er die Erneuerung der halleschen Alma Mater aktiv und erfolgreich vorangebracht. Energisch und prinzipienfest, aber auch mit Einfühlungsvermögen und Augenmaß. So war ihm wichtig, dass in dem zweistufigen Verfahren der politischen und wissenschaftlichen Evaluation, dem sich das Personal der Universität damals in Gänze unterziehen musste, ostdeutsche Universitätsangehörige, die zu Zeiten der DDR aus politischen Gründen Nachteile erlitten hatten, maßgeblich beteiligt wurden. Wie beispielsweise der Indologe Johannes Mehlig oder der Physiker, nachmalige Rektor und heutige Vizepräsident der Leopoldina Gunnar Berg. Zu beiden hat Hartwich bis zu seinem Abschied im Jahr 1995 auch persönlich engen Kontakt gehalten.
Während seiner Zeit in Halle hat Hartwich das Profil der Martin-Luther-Universität in mehrfacher Weise nachhaltig geprägt. Er hat, gemeinsam mit dem Soziologen M. Rainer Lepsius (beide nahmen damals Tür an Tür Quartier in noch unsanierten Zimmern des ehemaligen Studentenheims Geiststraße), die Institute für Politikwissenschaft und Soziologie in Rekordzeit aufgebaut und arbeitsfähig gemacht. Es war Hartwich, der die Idee hatte, die am 31. Oktober jeden Jahres in Wittenberg stattfindende Disputation neu zu begründen. Dass er einen Sinn hatte für das, was am historischen Erbe einer Universität bewahrenswert ist, äußerte sich auch in kleinen Struktureingriffen: Hartwich ist es zu verdanken, dass die Stelle des Kustos Anfang der 1990er Jahre nicht gestrichen wurde.
Auf Antrag der Philosophischen Fakultät I hat die Martin-Luther-Universität ihm 1998 für seine vielfältigen Verdienste die Ehrendoktorwürde verliehen. Am 12. Oktober, wenige Wochen vor Vollendung seines 90. Lebensjahres, ist Hans-Hermann Hartwich in Hamburg verstorben.
Prof. Dr. Everhard Holtmann ist Forschungsdirektor am Zentrum für Sozialforschung e.V. (ZSH) der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg