„Wir können zu neuen Ufern aufbrechen“
Die Universität Luthers und Melanchthons, der Ort, an dem die lutherische Tradition begründet worden ist: Für einen Theologen wie Dr. Karl Tetzlaff ist das per se ein faszinierender Ort. „Mich interessiert, wie man aus dieser Bewegung der frühen Neuzeit etwas für die Gegenwart lernen kann“, sagt der 36-Jährige. Mit Fragen wie diesen befasst er sich seit Oktober des vergangenen Jahres auch aus einer besonderen Stellung heraus: Seitdem ist er Geschäftsführer der Stiftung Leucorea, die 1994 als An-Stiftung der Universität gegründet wurde.
Der Wissenschaftler trat die Nachfolge von Dr. Marianne Schröter an – in einer Zeit, die aus seiner Sicht gleich in mehrerlei Hinsicht günstig war. Mit dem Land wurde zum Ende des Jahres 2023 eine neue Zielvereinbarung geschlossen. Sie schreibt die Finanzierung für drei Jahre fest und enthält Zusagen für zwei zusätzliche Postdoc-Stipendien sowie Mittel für die Arbeit mit Schülerinnen und Schülern sowie Studienanfängern in einer geplanten Schülerakademie. Zudem gab es in der Leucorea und in deren Umfeld mehrere Personalwechsel: Die Stiftung selbst hat seit 2022 mit Prof. Dr. Jörg Dierken von der MLU einen neuen Vorstandsvorsitzenden. Im vergangenen Jahr trat ein neuer Leiter in der Stiftung Luthergedenkstätten seinen Dienst an, in diesem Jahr eine neue Leiterin der Reformationsgeschichtlichen Forschungsbibliothek. Und: Eine gewisse Starre, die sich aus seiner Sicht nach dem Reformationsjubiläum von 2017 über Wittenberg gelegt habe, sei nun überwunden, sagt Tetzlaff. „Wir können jetzt zu neuen Ufern aufbrechen. Davon profitiere ich.“
Tetzlaff, gebürtig in Mecklenburg-Vorpommern, legte sein Abitur an der Landesschule Pforta ab und studierte von 2008 bis 2016 Evangelische Theologie in Berlin, Prag und Halle. 2022 wurde er an der MLU im Fach Systematische Theologie promoviert – mit einer Arbeit zu sozialer Anerkennung, die sich zwischen Theologie, Philosophie und Soziologie bewegte. Seit 2021 war er im Rahmen eines Langfristvorhabens der Deutschen Forschungsgemeinschaft zu Friedrich Schleiermachers „Christlicher Sittenlehre“ wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universität – und ist inzwischen neben seinem Posten als Leucorea-Geschäftsführer Lehrbeauftragter an der MLU.
Wittenberg hatte er zwischenzeitlich als Projektkoordinator im Zusammenhang mit dem Reformationsjahr 2017 bereits kennengelernt – damals organisierte er von der Lutherstadt aus das Veranstaltungsformat „Kirchentag auf dem Weg“ für Jena und Weimar. In seiner neuen Funktion als Leucorea-Geschäftsführer ist er zugleich für die Verwaltung und das Personal verantwortlich, aber auch in die Forschung eingebunden. Das sei eine „interessante Doppelrolle“, sagt er. „Sie gibt mir einen Gestaltungsspielraum, den ich sonst in der Wissenschaft weniger habe.“
Das heißt auch: Neben den an der Leucorea bereits länger laufenden Forschungsprojekten wie der Arbeitsstelle Philipp Hainhofer, der Forschungsstelle Hebraistik, dem Mittelelbischen Wörterbuch oder dem Wittenberger Häuserbuch hat sich Tetzlaff in den vergangenen Monaten mit der Anbahnung neuer Forschungsprojekte und Kooperationen befasst. Ein Projekt trägt den Titel „Geschichtszeichen der Freiheit“ – die gleichnamige Ringvorlesung fragt seit April dieses Jahres danach, wie wir uns 35 Jahre nach dem Mauerfall an das Ereignis erinnern und welche Gestaltungspotenziale uns die Erinnerung daran zu eröffnen vermag. Die Ringvorlesung ist ein Beitrag zum Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation. Der aus den Beiträgen entstehende Sammelband werde Grundlage des Drittmittel-Antrags für das anschließende Forschungsprojekt, so Tetzlaff. Es soll gemeinsam mit der MLU auch das produktive Potenzial früherer revolutionärer Umbrüche in den Blick nehmen, etwa der von 1848 und 1918.
In Kooperation mit dem MLU-Literaturwissenschaftler Prof. Dr. Daniel Weidner wird sich ein weiteres Projekt den religiösen Symboliken und Praktiken in literarischen Texten des 18. bis 21. Jahrhunderts widmen. Unter dem Titel „Das albertinische Wittenberg“ ist zudem eine Quasi-Fortsetzung des 2018 abgeschlossenen und sehr erfolgreichen Projekts „Das ernestinische Wittenberg“ geplant. Es soll sich mit den kulturellen Folgen des Regierungswechsels von den Ernestinern zu den Albertinern für die Stadt Wittenberg und den Kurkreis befassen. „Eine Frage ist zum Beispiel, wie sich das in der Architektur niederschlägt“, so Tetzlaff. Gemeinsam mit Forschern der Universität Leipzig wird nicht zuletzt ein Projekt „Ethik um 1800. Transformationen reformatorischer Gesellschaftstheorie am Beginn der Moderne“ geplant.
Die Leucorea habe laut Zielvereinbarung auch die Aufgabe, den Unibund Halle-Jena-Leipzig zu stärken, sagt Tetzlaff. Vor diesem Hintergrund gab es Ende Mai auch eine interdisziplinäre Tagung mit dem Jenaer Graduiertenkolleg „Modell Romantik“, die sich mit dem Verhältnis von Reformation und Romantik befasste. Überhaupt will sich Tetzlaff stärker dem wissenschaftlichen Nachwuchs widmen: Er setze auch einen Schwerpunkt auf Graduiertenforen, in denen sich rund 20 Doktoranden und Postdoktoranden aus ganz Deutschland für drei Tage zum Austausch miteinander und mit „interessanten Denkern der Gegenwart“ in Wittenberg treffen, sagt er. Start dafür ist im November, erster Referent der bedeutende Soziologe Hans Joas. „Ich denke, dass die Leucorea im Bereich der Graduiertenarbeit ein guter Ort sein kann.“
Vor all diesen neuen Ufern, zu denen Karl Tetzlaff aufbrechen will, kommt allerdings erst noch einmal ein Blick zurück: Einer der großen Höhepunkte in diesem Jahr ist das 30-jährige Bestehen, das die Stiftung Leucorea am 11. September mit einer Festveranstaltung begeht. Zu ihr werden auch Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Dr. Reiner Haseloff, als Festredner der ehemalige Präsident der Hochschulrektorenkonferenz Prof. Dr. Peter-André Alt sowie Zeitzeugen aus den 1990er Jahren erwartet. Aus Anlass des Jubiläums soll bis zum Reformationstag zudem ein Dokumentationsband zu 30 Jahren Disputation des Akademischen Senats der MLU in Wittenberg entstehen.
Große Pläne jedenfalls – bleibt da überhaupt Zeit für eigene Forschung? „Es ist natürlich eine Herausforderung“, sagt er. Das Profil des Hauses lebe aber auch davon, dass der Geschäftsführer selbst wissenschaftlich tätig ist. Und selbst wenn die eigene Habilitation zu Schleiermachers Sittenlehre gerade etwas an den Rand rückt: Auf Eis gelegt ist sie nicht.