Kennerblick auf die „Deutsche Ethik“
We’re hiring! - Wir stellen ein! So ist es auf der Homepage der noch jungen Emmy Noether-Nachwuchsgruppe „Praktische Gründe vor Kant“ zu lesen. Ein erster Blick auf die Seite verrät: Alles ist noch im Aufbau. Trifft man die Chefin des Projekts, Dr. Sonja Schierbaum, sieht man sie strahlen, denn sie hat inzwischen den ersten festen Projektmitarbeiter eingestellt. Michael H. Walschots heißt er, ein Kanadier, der seit längerem schon zur deutschen Moralphilosophie des 18. Jahrhunderts forscht. Im April soll noch ein Doktorand hinzukommen. „Ich freue mich, dass es jetzt endlich richtig losgehen kann“, sagt die Philosophin, die im März dieses Jahres aus Hamburg an die MLU kam.
Auf der Suche nach einem geeigneten Ort für ihre weitere Forschung befand sich Sonja Schierbaum in einer komfortablen Lage. Ausgestattet mit einem Emmy Noether-Stipendium konnte sie den Ort für ihre Arbeit frei wählen. Denn die Deutsche Forschungsgemeinschaft stellt ihr für den Aufbau und die Leitung einer eigenen Nachwuchsgruppe in den kommenden sechs Jahren insgesamt eine Million Euro zur Verfügung. Dass ihre Wahl dabei auf Halle fiel, ist kein Zufall. „Die MLU als einstige Wirkungsstätte des Philosophen Christian Wolff ist für mich ein ganz besonderer Ort“, so Schierbaum, „die Aufklärung wird hier an vielen Stellen sichtbar und ihre Erforschung hat eine lange Tradition.“
Deshalb kann die 42-Jährige am Interdisziplinären Zentrum für die Erforschung der europäischen Aufklärung (IZEA) aus dem Vollen schöpfen. Erste Projekte sind bereits angeschoben. Derzeit organisiert sie eine Tagung, in deren Zentrum Christian Wolffs „Deutsche Ethik“ stehen soll. Ein wichtiges Werk, das im Jahr 1720 zum ersten Mal erschienen ist. Im November 2020, wenn die Tagung stattfinden wird, ist das 300 Jahre her. In Vorbereitung auf dieses Jubiläum und auch auf die Tagung hat Schierbaum nun am IZEA eine Lesegruppe initiiert, in der sie mit Kollegen die Wolffsche Schrift gemeinsam intensiv liest und diskutiert.
„Für die Tagung selbst konnten wir bereits hochrangige Referenten und Referentinnen aus Deutschland, aber auch aus Italien und den USA gewinnen“, erklärt Sonja Schierbaum. Aus der Tagung wird ein Band mit Aufsätzen hervorgehen, der eine Lücke in der gegenwärtigen Forschung zu Wolffs praktischer Philosophie schließen soll. Nicht leicht sei es gewesen, auch weibliche Teilnehmer zu finden, denn offenbar gibt es in der internationalen Forschergemeinde zwar viele Frauen, die sich mit der Philosophie Immanuel Kants befassen, „jedoch arbeitet kaum eine Philosophin zu Wolff“, sagt Schierbaum, die mit ihrer Gruppe vor allem die Grundlagen des moralischen Handelns in der Aufklärungszeit erforschen möchte.
Dabei geht sie auch der Frage nach, warum Menschen moralisch handeln sollen und welche Gründe speziell der hallesche Universalgelehrte Christian Wolff dafür nannte. „Erst, wenn man sich über diese theoretischen Grundlagen klar geworden ist, kann man daraus ableiten, was das für die Praxis bedeutet“, so Schierbaum, die eher auf Umwegen zur Philosophie kam. Als Schülerin konnte sie sich aufgrund ihres breiten Interesses für viele Dinge nicht so ohne Weiteres für ein Studienfach entscheiden. Es war aber klar, dass es eher in Richtung Geisteswissenschaften gehen soll. Ihr Vater, selbst studierter Philosoph, riet ihr zu diesem Fach. Anfangs sei sie davon allerdings wenig begeistert gewesen, aber es wurde besser. Heute reizt sie daran vor allem „das Begriffliche, und dass man teils sehr komplizierte Sachverhalte intensiv durchdenken muss.“ Und auch die Tatsache, dass man für die Philosophie „eigentlich nicht mehr als seinen Kopf und einen Text braucht“, begeistert sie.
Generell hält sie die Beschäftigung mit philosophischen Fragen für enorm wichtig, denn allzu oft, so ihre Erfahrung, reden verschiedene Gruppen schlicht aneinander vorbei. Dies könne man nur ändern, indem man zielgerichtet miteinander kommuniziert und seinen Blick schärft. „Insofern stimmt es eben nicht, dass die Philosophie eine Wissenschaft für Einzelgänger ist. Ganz im Gegenteil, sie hat durchaus ein kommunikatives Element“, so Schierbaum. Letztlich liefert sie auch den begrifflichen und theoretischen Unterbau für gesellschaftliche und soziale Institutionen, zum Beispiel die Menschenrechte. Denn erst, wenn klar ist, was Menschenrechte überhaupt sind und warum sie eingehalten werden müssen, kann auch begründet werden, warum ihre Verletzung in der Praxis geahndet werden müsse. Ähnliches gilt etwa auch für die Frage nach dem Umgang mit Migration.
In den kommenden Jahren hat Sonja Schierbaum noch viel vor. Neben der Habilitation, die sie vorantreiben will, ist es ihr ein Herzensanliegen, ihre Forschungsinhalte so aufzubereiten, dass sie auch für Laien verständlich sind. Und natürlich möchte sie sich gut um ihre Forschergruppe kümmern und auch daran wachsen. „Es ist ein gutes Gefühl, selbstbestimmt und eigenverantwortlich zu forschen“, sagt sie. Das gibt ihr letztlich auch die Möglichkeit, weiterhin Karriere und Familienleben unter einen Hut zu bringen. Denn nach wie vor haben es Frauen in der Wissenschaft schwerer als ihre männlichen Kollegen, diesen Spagat hinzubekommen. Sonja Schierbaum ist er geglückt. Bereits während des Studiums ist sie Mutter einer Tochter geworden. „Ich würde mich freuen, wenn ich damit künftig keine Ausnahme mehr wäre.“
Kommentare
Ulrike Müßig am 12.03.2024 14:44
Ganz wunderbar, viel Erfolg!
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