Konsequenter Einsatz für Erneuerung – Ein Nachruf auf Horst Scharf

31.01.2022 von Prof. Dr. Dr.-Ing. Gunnar Berg in Personalia
Am 9. Dezember 2021 verstarb im Alter von 92 Jahren der Landwirt Dr. Dr. Horst Scharf. Er gehörte in den Jahren 1989/90 zu den aktivsten Mitgliedern der „Initiativgruppe zur Erneuerung der Universität“. Prof. Dr. Dr.-Ing. Gunnar Berg hat einen Nachruf auf ihn verfasst.
Horst Scharf
Horst Scharf (Foto: privat)

Horst Scharf war 1989/90 eines der unermüdlichen, vor keiner Aufgabe zurückschreckenden und bei der Sichtung und Sicherung von Dokumenten Kärrnerarbeit leistenden Mitglieder der „Initiativgruppe zur Erneuerung der Universität“. Er war eine eigenwillige, eine „knorrige“ Persönlichkeit, die schon als junger Absolvent und später als Assistent nicht davor zurückschreckte, den einen oder anderen Konflikt auszutragen – kein bequemer Partner für seine Vorgesetzten, aber ein zuverlässiger Arbeiter. In Umbruchzeiten, so sie solche denn erleben, gehören sie zu den Motoren der Entwicklung.

Als Sohn des Bauern Arthur Paul Scharf und seiner Ehefrau Frieda Kamilla, geb. Dietz, wurde er am 20. März 1929 in Culitzsch bei Zwickau geboren, wo er bis 1943 die Volksschule besuchte und anschließend im väterlichen Betrieb arbeitete. Doch das genügte ihm nicht, so nutzte er die Winterhalbjahre 1947/48 und 1948/49, um Winterkurse an der Landwirtschaftsschule in Zwickau zu belegen. Ab 1950 studierte er dann regulär an der Fachschule für Landwirtschaft in Zwickau und schloss diese 1952 als „Staatlich geprüfter Landwirt“ ab, womit er auch die Hochschulreife erlangte. Unmittelbar darauf begann er 1952 das Landwirtschaftsstudium in Jena, das er im folgenden Jahr in Halle fortsetzte, wo er 1955 die Abschlussprüfung als Diplom-Landwirt mit einer Arbeit aus dem Gebiet der „Pflanzenzüchtung“ mit dem Prädikat „sehr gut“ bestand, was auch seine weitere wissenschaftliche Richtung bestimmte.

In der DDR gab es an jeder Hochschule eine „Absolventenlenkung“, da man von der irrigen Vorstellung ausging, es sei möglich, die Zahl der Studienplätze so zu planen, dass einerseits letztlich für jeden Absolventen ein Arbeitsplatz zur Verfügung stehen würde, dass aber andererseits die Zahl der Absolventen jeweils genau dem Bedarf der Volkswirtschaft zu entsprechen hatte, Studienabbrecher wurden von vornherein nicht ins Kalkül gezogen. Das gab oft gegen Ende des Studiums Konflikte mit den Absolventen, da die „Absolventenlenker“ natürlich bestrebt sein mussten, auch unattraktive Stellen zu besetzen, zum Beispiel in entlegenen Gebieten der DDR, wo gerade ein „wichtiger“ Wirtschaftszweig aufgebaut werden sollte. Auch Horst Scharf geriet in diese Situation, es kam zu „Differenzen“, so dass er erst einmal ohne Beschäftigung blieb, ehe er dann doch noch als Versuchstechniker – und nicht, wie seiner Qualifikation entsprochen hätte, als wissenschaftlicher Mitarbeiter – am Institut für Versuchs- und Untersuchungswesen Rostock angestellt wurde.

Natürlich war ihm klar, dass Pflanzenzüchtung in der modernen Landwirtschaft auch Kenntnisse in Chemie verlangte. Um diese von Grund auf zu erwerben, nahm er 1956 ein Studium der Chemie in Halle auf, das er, vermutlich nach dem Vordiplom, 1958 beenden musste, da ihm sein Antrag auf eine „Verlängerung der Studiengenehmigung bis zum Diplomabschluss“ abgelehnt wurde. Er erhielt in diesem Jahr eine Anstellung als Assistent an der Landwirtschaftlichen Fakultät, wo er zunächst nur halbtags beschäftigt wurde, da er in dieser Zeit extern das Chemiestudium fortsetzte. 1961 konnte er auf eine Vollzeitstelle wechseln. Das Chemiestudium schloss er im Juli 1965 mit einer Arbeit zur Bestimmung des Kohlenstoffgehalts von Böden mit der Bewertung „sehr gut“ als Diplom-Chemiker ab. Doch parallel zu diesem Studium hatte er sich um ein Thema für eine Dissertation an der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät (!) bemüht und wurde bereits im Dezember 1965 mit einer Arbeit zu langjährigen Düngungsversuchen mit Stickstoff mit der Note „sehr gut“ zum Dr. rer. nat. promoviert.

Doch naturgemäß war es ihm auch wichtig, als Landwirt wissenschaftlich zu reüssieren und er erarbeitete, sehr unterstützt von Professor Karl Schmalfuß, eine Dissertation zu „Ertrag […] einiger gartenbaulicher Fruchtarten“, die er 1967 vorlegte. Sie wurde in einer Vorbegutachtung von drei renommierten Landwirten der Fakultät sehr positiv bewertet, dann verhinderte allerdings der Institutsdirektor, der gleichzeitig Dekan war, unter fadenscheinigen Gründen die Einleitung des Verfahrens. So konnte ihm erst im Rahmen der Rehabilitierung 1996 von der Fakultät dieser Grad verliehen werden, wobei es vorteilhaft war, dass er nicht resigniert hatte, sondern den Inhalt der Dissertation in vier Publikationen 1968 veröffentlicht hatte.       

Unabhängig von der speziellen inneren Struktur der Landwirtschaftlichen Fakultät und ab 1968 der Sektion Pflanzenproduktion hatte er immer eine Leitungsposition im Bereich „Chemisches Labor“ inne, die er ausweislich verschiedener Beurteilungen in dieser Zeit „mit großer Gewissenhaftigkeit und […] mit dem dafür erforderlichen beträchtlichen Zeitaufwand“ erledigte. War also fachlich nichts auszusetzen, so fiel er aber politisch so missliebig auf, dass sich der Sekretär der SED-Parteileitung der Universität – nebenbei bemerkt, der mächtigste Mann an der Universität, weit einflussreicher als zum Beispiel der Rektor – bemüßigt fühlte, als Reaktion auf „Angelegenheit Eingabe Dr. Horst Scharf“, die „Organe der Volkspolizei“ einzuschalten, „um zu erreichen, daß Dr. Scharf eine Arbeitsstelle außerhalb der Universität zugewiesen bekommt“ (Schreiben vom 2.6.86). Das wurde wohl doch nicht erreicht, stattdessen wurde Horst Scharf vom stellvertretenden Sektionsdirektor in einem förmlichen Schreiben vom 8.12.86 ohne Anrede mitgeteilt: „Festlegung […]  Sie ab sofort aus dem Lehr- und Erziehungsprozeß der Studenten herauszunehmen.“ Dieses ausdrückliche ‚Lehrverbot‘ wurde mit Schreiben vom 7.12.1989 zurückgenommen, in dem vom „Wiedereinsatz in der Studentenbetreuung“ die Rede ist und Horst Scharf aufgefordert wurde, „umgehend einen Antrag auf Erteilung der Facultas docendi […] zu stellen“ – übrigens unterschrieben von dem demselben stellvertretenden Sektionsdirektor, der das Verbot ausgesprochen hatte, nun allerdings mit höflicher Anrede. Das war typisch für die Situation an der Universität Ende 1989 / Anfang 1990: Die alten „Kader“ saßen noch in ihren Positionen und suchten diese durch solche „Wende“-Manöver zu erhalten. 

So wurde ihm eine akademische Karriere verwehrt, während der gesamten DDR-Zeit kam er über die Funktion eines Assistenten nicht hinaus. Erst nach der friedlichen Revolution empfahl die Rehabilitierungskommission der Universität unter dem Rechtshistoriker Prof. Dr. Rolf Lieberwirth, ihn auf eine Oberassistenz zu berufen, was auch zum 1.12.1990 realisiert wurde, nun allerdings bereits im Alter von 61 Jahren! Die Fachkompetenz und die Eignung zur „Leitung eines chemisch-analytisch arbeitenden Labors“ wurde ihm nochmals 1993 durch die Außerordentliche Berufungskommission bestätigt. Und so konnte er mit einer gewissen Befriedigung erleben, dass ihm der Titel „Akademischer Mitarbeiter“ verliehen wurde, eine Ehrung, die das Hochschulerneuerungsgesetz für verdiente Mitarbeiter vorsah, die damit nicht-weisungsgebunden wissenschaftlich arbeiten konnten.    

Für Horst Scharf war es selbstverständlich, sich bereits 1989 sowohl bei den Demonstrationen zu beteiligen – das taten damals bedauerlicherweise nur sehr wenige Universitätsangehörige –    als auch sich an der Universität, zunächst natürlich besonders an der Sektion, für eine Erneuerung einzusetzen. So fand er schnell den Kontakt zur „Initiativgruppe zur Erneuerung der Universität“ und wurde bald eines ihrer aktivsten Mitglieder, wobei er zu denen gehörte, die erkannt hatten, dass für eine tatsächliche Erneuerung an erster Stelle eine personelle Erneuerung Voraussetzung ist.

Die Arbeit in der „Initiativgruppe“, die ja erst unter widrigen Umständen und angesichts der Personalstruktur – die Universitäten waren seit der 3. Hochschulreform 1968 zu „Kaderschmieden“ der SED geworden – gegen Widerstände organisiert werden musste, war mit großem Zeitaufwand verbunden, was auch für Dr. Scharf hieß, das eine oder andere wissenschaftliche Projekt hintanzustellen, das er naturgemäß nach der Arbeit in der „Initiativgruppe“ gern noch beenden wollte. Da war es bitter, dass er bereits 1994 die Altersgrenze erreichte und eigentlich aus dem Dienst hätte scheiden müssen. Er wollte eine Verlängerung erreichen, doch leider kollidierte dieses berechtigte Vorhaben mit der personellen Situation an der Universität, die durch die Integration der PH Halle-Köthen und von Teilen der TH Merseburg einen immensen Personalüberhang hatte und angehalten war, diesen abzubauen. Aber natürlich ließ das Horst Scharf, jahrzehntelang gewöhnt, sich zur Wehr zu setzen, nicht auf sich beruhen, so dass es zur Auseinandersetzung kam, die letzten Endes mit einem Vergleich endete, in dem festgelegt war, dass das Arbeitsverhältnis erst am 30.9.1995 beendet wurde. Die Fakultät stellte ihm aber darüber hinaus „[a]uf Grund seiner Verdienste bei der Erneuerung der Universität“ und weil er „vor der Wende wissenschaftlich und materiell benachteiligt wurde“ (aus Stellungnahme des Dekans Prof. Dr. Gerhard von Lengerken) Arbeitsmöglichkeiten zur Verfügung, so dass er seine wissenschaftlichen Arbeiten beenden konnte.

Dr. Dr. Horst Scharf war ein geradliniger Mensch, der sich für als richtig erkannte Ziele mit aller Kraft einsetzte. Das prägte auch seine Arbeit in der „Initiativgruppe“, in der er sich nicht nur konsequent an der Aufarbeitung geschehenen Unrechts beteiligte, indem er zum Beispiel Akten sicherte, sondern auch darauf hinwirkte, eine personelle Erneuerung der Universität zu erreichen. Er gehörte zu dem „Kern“, der die Arbeit der Gruppe vorantrieb und auch vor Hindernissen nicht zurückschreckte. Die Universität wird ihm ein bleibendes Angedenken bewahren!  

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Frau Karin Keller sowie Frau Tabea Janssen vom Universitäts-Archiv Halle-Wittenberg sei herzlich für die Bereitstellung der Unterlagen sowie für die Unterstützung bei der Recherche gedankt.

Der Autor Prof. Dr. Dr.-Ing. Gunnar Berg war von 1992 bis 1996 Rektor der Martin-Luther-Universität. Von 2010 bis 2020 ist der Physiker Vize-Präsident der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina gewesen.

 

 

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