„Die Leucorea ist wieder ein Ort der Wissenschaft“

05.09.2024 von Katrin Löwe in Wissenschaft
Mit einer hochkarätig besetzten Festveranstaltung begeht die Stiftung Leucorea am kommenden Mittwoch, 11. September, in Wittenberg ihr 30-jähriges Bestehen. Sie wurde 1994 als An-Stiftung der Universität gegründet. Ein Gespräch mit Prof. Dr. Jörg Dierken, Theologe an der MLU und aktueller Vorstandsvorsitzender der Stiftung, über schwierige Anfänge, Erreichtes und Pläne für die Zukunft.
Jörg Dierken
Jörg Dierken (Foto: Markus Scholz)

30 Jahre sind einerseits ein langer Zeitraum. Wenn man in die Geschichte der MLU blickt, die 1502 in Wittenberg begann …
Jörg Dierken: (lacht) Im Verhältnis dazu sind 30 Jahre natürlich nichts. Um aber nochmal die Vorgeschichte der Stiftung in Erinnerung zu rufen: Die Universität Wittenberg wurde ja in der Zeit der napoleonischen Kriege geschlossen. Die Gebäude waren am Ende nur noch Munitionslager und Pferdeställe, der Lehrkörper tingelte ein bisschen durch Mitteldeutschland, bis er in Halle landete. Seit der Vereinigung 1817 steht die Leucorea sozusagen für den Wittenberg-Teil im Doppelnamen der Universität Halle-Wittenberg. Nach der friedlichen Revolution gab es verschiedene Überlegungen, die Wittenberger Universität wieder zu gründen, sie zu reaktivieren. Eine Reihe von Menschen in Wittenberg, aber auch im Land, hätte das gern gesehen. Es ließ sich allerdings nicht realisieren angesichts von zwei Universitäten, die das Land bereits hat. Auch ein paar Ideen, wenigstens Teile der Uni, etwa die Medizinpädagogik oder auch die Theologie, dort mit regulärem Lehrbetrieb unterzubringen, haben sich als unpraktikabel erwiesen. So wurde 1994 gewissermaßen als eine Kompromisslösung die Leucorea als Stiftung des öffentlichen Rechts an der Martin-Luther-Universität gegründet. Das ist natürlich etwas anderes als eine Universität. Aber sie ist mit der MLU verbunden, auch als Ort des akademischen Arbeitens, von Diskussionen, Tagungen, Forschung, Nachdenken – kurzum von Vielem, was die Universität auszeichnet.

Welche Rolle spielt die Leucorea heute? Oder anders gefragt: Haben sich die damaligen Erwartungen erfüllt?
Ich würde sagen: ein klassisches Jein. Erfüllt hat sich, dass die Leucorea wieder ein Ort der Wissenschaft ist. Sie bietet zum Beispiel die räumliche Infrastruktur für Einrichtungen wie das Institut für Hochschulforschung oder das Institut für deutsche Sprache und Kultur – beides An-Institute der Universität. Darüber hinaus finden vielfach Tagungen statt – die MLU hat mit der Leucorea durchaus Möglichkeiten, die es an anderen Universitäten so nicht gibt. Und die Leucorea ist ein Ort, an dem neue wissenschaftliche Projekte angestoßen werden, auch in Zusammenarbeit mit anderen Universitäten und über den mitteldeutschen Universitätsbund hinaus. Das wäre das Ja.

Das Nein: Zwar hat es kontinuierlich Seminare, Workshops oder Summer Schools in Wittenberg gegeben. Die Hoffnung, eine reguläre Universität einzurichten, hat sich aber nicht erfüllen lassen.

Stand die auch für die Stiftung noch als Fernziel?
Das war eher die Erwartung nach der Wende. Ich plädiere für ein realistisches Erwartungsmanagement. Das heißt: Man hat das Mögliche im Auge und versucht in diesem Rahmen zu realisieren, was realisiert werden kann – mit einem durchaus kreativen Herangehen an neue Ideen. Neben der Forschung soll es deshalb Projekte geben, durch die so etwas wie ein kollegstufenartiges Leben aufgenommen wird, hinzu kommen Formate, die sich an Graduierte richten. Insgesamt würde ich also sagen: Das Glas ist nicht halb leer, sondern halb oder eher dreiviertel voll.

Lassen Sie uns zurück auf den Anfang blicken. Wie sah der aus? Die ersten Disputationen zum Beispiel, die traditionellen Streitgespräche der MLU, waren ja noch nicht in der Leucorea.
Richtig. Zwar wurde der Stiftung das Eigentum an Grundstücken und Gebäuden der Leucorea übertragen. Die völlig heruntergekommenen Gebäude mussten aber zunächst aufwändig saniert werden, so dass die ersten Disputationen in schulischen und städtischen Räumen stattfanden. Nach dem Ende des ersten Bauabschnitts hat die Universität 1996 zum ersten Mal zur Disputation in das Audimax der Leucorea eingeladen. Jetzt gab es also einen Raum, der nicht nur leihweise der Wissenschaft zur Verfügung stand. Den Respekt vor der Eigenständigkeit von Wissenschaft sollte dann auch der symbolische Zug des Akademischen Senats vom Rathaus zur Leucorea zum Ausdruck bringen. Dazu gehört auch das Tragen der Talare, selbst wenn man dafür – ich weiß es aus meiner Erfahrung als Dekan – eine gewisse Toleranz gegen Mottenpulvergeruch braucht. (lacht)

In den Anfangsjahren der Leucorea ist insbesondere der Tagungsbetrieb angelaufen, aber auch die Zusammenarbeit mit anderen Institutionen in Wittenberg, zum Beispiel der Stiftung Luther-Gedenkstätten oder später der Reformationsgeschichtlichen Forschungsbibliothek. Die Arbeit daran, dass die Leucorea auch ein eigener Ort der Wissenschaft wird, lief auch, hat mit dem Wechsel der Geschäftsführung von Christine Grabbe zu Dr. Marianne Schröter aber noch einmal neue Impulse bekommen. Mit dem Reformationsjubiläum 2017 gab es einen besonderen Drive. Heute gibt es mit dem Wechsel zu Dr. Karl Tetzlaff zudem einen weiteren Akzent durch die stärkere Ausrichtung der Forschung auf kulturelle Wirkungen der Reformation.

Noch einmal zum Stichwort Disputation der Universität: Mit welchen Themen hat sie bisher stattgefunden?
Da gab es ein sehr breites Spektrum von der Selbstreflexion der Universität über deren Bedeutung für Gesellschaft und Politik bis hin zu Fragen von Ökonomie, Ökologie und Demokratie, von Kultur, Religion und dem sozialen Leben. Rückblickend kann man sagen, dass sie auch die gesellschaftliche Entwicklung spiegeln. Die Arbeitslosenzahlen sind heute nicht mehr so im Vordergrund wie in den frühen 1990er Jahren; damals war das ein bedrückendes Disputationsthema. Dafür hatten wir im vergangenen Jahr das Thema Künstliche Intelligenz, das damals noch keines war.

Sie haben gerade die 2018 eröffnete Reformationsgeschichtliche Forschungsbibliothek erwähnt …
Sie ist gegründet worden, um die entsprechenden bibliothekarischen Bestände der Stiftung Luther-Gedenkstätten, der Leucorea und des Evangelischen Predigerseminars an einem Ort zusammenzuführen, zu den Gesellschaftern zählt zudem die Universitäts- und Landesbibliothek. Heute ist der Bestand von 230.000 Bänden in den wunderbar renovierten Räumlichkeiten des Schlosses untergebracht. Die Bibliothek kann damit durchaus in der Liga großer Forschungsbibliotheken wie der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel mitspielen.

Wenn Sie einen Blick in die Zukunft der Leucorea werfen: Was sehen Sie?
Nach allem, was ich so wahrnehme, gibt es einen klaren politischen Willen, dass die Leucorea weitergeführt wird und man das Leben dort intensiviert sehen möchte. Mit Blick auf die Lehre heißt das: Es wird ein Graduierten-Forum geben, zum ersten Mal findet es im November mit dem Soziologen Prof. Dr. Hans Joas statt. In Gründung ist ein „Wittenberg Center for Advanced Studies at Leucorea“, in dem verschiedene Studiengänge Lehrangebote machen, zum Beispiel ein neu an der Theologischen Fakultät entstehender englischsprachiger Studiengang. Eine Kinderuniversität wird im nächsten Jahr mit der Stiftung Luther-Gedenkstätten anlaufen, auch ein Propädeutikums-Angebot, das sich an Schülerinnen und Schüler der Oberstufe richtet, ist im Entstehen.

Und wo steht die Leucorea 2054, also in weiteren 30 Jahren?
Ich sehe eine selbstbewusste, aber auch kritische Pflege der Traditionen, eine Einrichtung, die auch mit der Zeit geht. Und ich sehe eine stärkere Mobilität und Vernetzung der Wissenschaftslandschaft hier im mitteldeutschen und Berliner Raum – und Wittenberg als eine Art Drehscheibe. Das mag etwas überzogen klingen, aber es ist eine Vision.

Festveranstaltung mit Ministerpräsident Dr. Reiner Haseloff

Zur Festveranstaltung am 11. September wird unter anderen Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Dr. Reiner Haseloff ein Grußwort halten. Ihm folgen Rektorin Prof. Dr. Claudia Becker und der Wittenberger Oberbürgermeister Torsten Zugehör. Den Festvortrag zum Thema „Zukunft braucht Herkunft? Was die Universität aus ihrer Geschichte lernen kann" hält der ehemalige Präsident der Hochschulrektorenkonferenz Prof. Dr. Peter-André Alt. Mit ihren Erinnerungen und Wünschen tragen zudem der MLU-Altrektor und ehemalige Leucorea-Vorstandsvorsitzende Prof. Dr. Dr.-Ing. Gunnar Berg, der frühere Wittenberger Oberbürgermeister Eckhard Naumann und der ehemalige Leiter des Akademischen Orchesters Matthias Erben zum Programm bei.

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