Neuerscheinung: Der ganze Kant in einem Lexikon
Warum brauchte der große Philosoph der Aufklärung überhaupt sein eigenes Lexikon? „Kant hat sich zwar an die Terminologie von Philosophen wie Christian Wolff oder Alexander Gottlieb Baumgarten gehalten, aber er hat die Begriffe mit eigenen Inhalten gefüllt und sie ganz neu interpretiert“, erklärt Jürgen Stolzenberg. Der Philosophieprofessor ist einer der Herausgeber des neuen Lexikons, das künftig allen an Immanuel Kant Interessierten als Nachschlagewerk dienen soll.
Bereits zu Kants Lebzeiten gab es Versuche, die Terminologie des Philosophen in einem „Wörterbuch zum leichtern Gebrauch der Kantischen Schriften“ zu sammeln. Rudolf Eisler brachte im Jahr 1916 das letzte bedeutende Kant-Lexikon heraus, das Generationen von Philosophie-Studenten und –Forschern die wichtigsten Begriffe des großen Denkers erläuterte. „Der Eisler“ ist das wichtigste Kant-Lexikon des 20. Jahrhunderts, obwohl es heute als veraltet und unvollständig gilt. „Kein Lexikon hat bislang alle Kant-relevanten Termini enthalten. Und keines hat den aktuellen Stand der Forschung berücksichtigt“, sagt Jürgen Stolzenberg.
"Ein exorbitantes Vorhaben"
Gemeinsam mit drei weiteren Philosophie-Professoren – Marcus Willaschek aus Frankfurt am Main, Georg Mohr aus Bremen und Stefano Bacin aus Mailand – will Stolzenberg mit der neuen Publikation in beiden Punkten Standards setzen. „Ein exorbitantes Vorhaben“ nennt der Kant-Forscher das Projekt rückblickend. Es wurde vom Wissenschaftsverlag Walter de Gruyter initiiert und von der Fritz-Thyssen-Stiftung gefördert. Das 2.800 Seiten umfassende Ergebnis wird auf dem internationalen Kant-Kongress in Wien am 24. September der Öffentlichkeit vorgestellt.
Alle von Kant verwendeten philosophischen Termini, von ihm erwähnte Personen sowie seine Werke und die Zeitschriften, in denen er publizierte, sind in insgesamt 2.395 Stichworten aufgeführt. „Unser Lexikon präsentiert den ganzen Kant – von den ersten naturphilosophischen Aufsätzen bis zu den Reflexionen, die Kant noch in seinen letzten Jahren notierte. Es benennt und definiert die Kernbestände der Philosophie Kants und hat eine klärende Funktion“, so Stolzenberg. Zugleich konfrontiere es den Leser aber damit, dass es keine für alle Zeiten gültigen Sachverhalte präsentieren kann. Die 221 Autoren aus 18 Ländern stellen auch aktuelle Forschungskontroversen um Kants Termini dar.
Einen Großteil der Personenartikel haben fünf fortgeschrittene Philosophie-Studenten und ein Doktorand aus Halle verfasst. „Jeder von uns hatte 20 bis 30 Personenartikel zu bewältigen“, erzählt Christiane Straub, die damals als wissenschaftliche Hilfskraft bei Jürgen Stolzenberg arbeitete und über drei Jahre das Lexikon in seinem Entstehungsprozess begleitet hat.
Studenten auf Tagung in Kalinigrad
Gemeinsam mit ihren Kommilitonen Tobias Audersch, Bianca Pick, Sebastian Wengler, Jean Philipp Strepp und dem wissenschaftlichen Mitarbeiter Dr. Dirk Effertz hat sie die Informationen zu den Personen, die Kant in seinen Werken erwähnt, zusammengetragen. „Wir haben zuerst bei Kant selbst nachgeschlagen, um herauszufinden, wo und in welchem Kontext er über diese Menschen schreibt.“
Dann ging es an die Recherche. Gerade bei den weniger bekannten Personen war diese oft mit einigem Aufwand verbunden. „Wir haben viel Zeit in Bibliotheken verbracht, aber auch Wissenschaftler angeschrieben und auf diesem Weg Informationen eingeholt“, berichtet Straub. Neben den Lebensdaten war in den Artikeln kurz zu erläutern, in welchem Zusammenhang die Personen bei Kant jeweils eine Rolle spielten.
"Unsere ersten Publikationen"
Das bedeutete für die Studenten der Philosophie manchmal auch, in fremde Welten abzutauchen – wenn Kant beispielsweise über die Theorie von Gottfried Wilhelm Leibniz zu den lebendigen Kräften in der Physik schreibt. „Anfangs hatten wir sicherlich unterschätzt, wie komplex diese Arbeit sein kann, von den Rechercheanfragen bis zum abschließenden Überarbeiten der Texte“, sagt Christiane Straub rückblickend.
Bereut hat sie ihre Mitarbeit am Lexikon aber nicht. „Es war etwas anderes als Hausarbeiten-Schreiben. Wir haben gelernt, wie diese Art des wissenschaftlichen Arbeitens funktioniert und konnten erste Kontakte in diese Richtung knüpfen.“ Vier der Studenten konnten 2009 sogar an der Kant-Tagung in Kaliningrad teilnehmen. Vorträge internationaler Kant-Forscher, das Grab des großen Philosophen, seine Wirkungsstätten sowie ein Abendessen mit der Gesellschaft der Freunde Kants standen auf dem Besuchsprogramm.
Auf das Ergebnis ihrer Mitarbeit ist Christiane Straub heute stolz. „Diese Artikel sind in der Regel unsere ersten Publikationen.“ Und sie werden gelesen werden, dessen ist sich Jürgen Stolzenberg sicher: „Das Nachschlagewerk wird jedem nutzen, der künftig über Kant arbeitet. Genauso interessant ist es aber für Leser, die gewisse philosophische Kenntnisse mitbringen und ein Interesse an Kants Werk haben.“ Kant bleibe ein wichtiger Fixpunkt in der Geistesgeschichte – für die theoretische Philosophie ist er ebenso bedeutsam wie in der Ethik und der politischen Theorie.
Angaben zur Publikation
Marcus Willaschek/Jürgen Stolzenberg/Georg Mohr/Stefano Bacin (Herausgeber): Kant-Lexikon, Berlin 2015, 3 Bände, 2800 Seiten, Ladenpreis der gebundenen Ausgabe: 349 Euro, Subskriptionspreis bis 31. Dezember 2015: 249 Euro, ISBN: 978-3-11-017259-1
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