Neuerscheinung: "Erziehungsgeschichte/n."
Erziehen und erzogen werden: zwei Seiten desselben Experiments – Ausgang ungewiss –, das von den Akteuren („Ältern“ und Jüngeren) sehr unterschiedlich erlebt und nicht selten erlitten wird. Idealziel wäre eine vollkommene Balance zwischen Freiheit und Zwang, die das zu erziehende (und am Ende im Wortsinn „wohl erzogene“) Individuum zu Selbstdistanz und Kant’scher Moralisierung befähigt. Neben der Interaktion von Educandus und Educator spielt das Wechselverhältnis zwischen individuellen Erziehungszielen und gesellschaftlichen Anforderungen eine Rolle. Doch vor allem letztgenannte haben sich im Lauf der Zeit oft verändert, besonders in Zeiten gravierender Umbrüche, wie sie von der Frühneuzeit bis zur Gegenwart, hier wie anderswo, immer wieder zu beobachten waren.
Elf Expert(inn)en der Bereiche Erziehungswissenschaften, Historische Bildungsforschung, Sozialpädagogik, Soziologie und Deutschdidaktik (sie lehren und forschen in Berlin, Bern, Braunschweig, Dortmund, Halle, Hamburg, Hildesheim, Karlsruhe, Köln, Pavia und Wolfenbüttel) analysieren verschiedene spezielle Aspekte der Erziehung (und Bildung).
Wunder – Langeweile – Glück
Das erste Kapitel heißt „Kindheiten“. So gehört zu den direkten Folgen der 68er-Bewegung in Westdeutschlands die Diskussion um eine „Neue Subjektivität“, die auch in der Reflexion des Glücksanspruchs von Frauen und Kindern aufgenommen wird. In diesem Kontext wendet sich Meike Sophia Baader der „Kinderladenbewegung“ der 1970er Jahre zu. Eva-Maria Kohl (MLU) untersucht die Wirkgeschichte von Bernd Rosenlöchers (DDR-)Kinderbuch „Das langgestreckte Wunder“ – vor und nach der Wende. Die Fassungen von 1989 und 2006 unterscheiden sich erheblich – ebenso sicher die jeweiligen Reaktionen bei den (kindlichen) Lesern, analog zum veränderten Phänomen der Grenzenlosigkeit. Helga Zeiher präsentiert die Erfahrung der Langenweile: Wie Kinder können lernen, sinnvoll mit Zeit umzugehen?
Einkehr – Fremdheit – Ausgrenzung
Im zweiten Kapitel, in Raum und Zeit am weitesten gespannt, kreisen sechs Beiträge um „Selbstzeugnisse“. Dass mit Erziehung, beginnt man früh genug, alles erreicht werden kann, zeigt das Schicksal der Arnaud-Frauen im Kloster Port-Royal im 17. Jahrhundert, von Fritz Osterfelder akribisch recherchiert. Bis ins 16. Jahrhundert reichen Ansätze zur Frauenbildung zurück; die „weibliche Leserschaft in der Frühen Neuzeit“, die sozial breit gefächert war – Ulrike Gleixner führt sie uns vor. Elke Kleinau befasst sich mit dem Briefroman „Leid und Freud einer Erzieherin in Brasilien“ der deutschen Lehrerin Ina von Binzer. Das Alter Ego der Autorin fühlt sich wie diese einsam und fremd in der Fremde. Selbstzweifel plagen sie und die Angst, all ihre Mühen fruchteten bei ihren Schülerinnen nichts. Auch Kritik am „Lehrerinnenzölibat“ klingt an. Egle Becchi stellt zwei Tagebücher vor, lesenswerte „Egodokumente“ (Mitte des 19. Jahrhunderts). Die Aufsätze von Ulrike Mietzner und Ulrike Pilarczyk zeichnen den Lebensweg des Fotografen Alfred Wertheim (1904–1968) nach, geprägt von jüdischer Jugendbewegung, Verfolgung und Exil.
Kulturtransfer – Frauenbildung – Norm
Am Ende stehen „Reflexionen“. Christine Mayer greift aus dem europäischen Diskurs über Bildung und Erziehung am Ende des 18. Jahrhunderts – mitbestimmt auch von Francke, Fénelon, Rousseau und Locke – John Burtons „Lectures on female education and manners“ aus dem Jahr 1793 (deutsch 1795) heraus. Reinhard Hörster (MLU) widmet seine sozialpädagogischen Überlegungen einem sinnreichen Multiple von Joseph Beuys aus dem Jahr 1977.
Angaben zum Buch
Klemens Ketelhut/Dayana Lau (Hg.) Erziehungsgeschichte/n. Kindheiten – Selbstzeugnisse – Reflexionen (Beiträge zur Historischen Bildungsforschung, Band 43) Köln/Weimar/Wien 2014. 203 S. 30 s/w-Abb., 39,90 Euro, ISBN 978-3-412-21059-5