Die Welt zu Tisch bei Francke
Der missionarische Eifer des Christentums ist vor allem durch ein Bild geprägt: Kirchenvertreter pilgern in die verschiedensten Regionen der Welt und verbreiten die Lehre Christi – in der Hoffnung, die „Fehlgeleiteten“ und „Ungläubigen“ zu bekehren. „Auch die halleschen Pietisten hatten den Anspruch, die christliche Welt zu reformieren“, sagt Jun.-Prof. Dr. Stanislau Paulau. „Aber ihr Ansatz war ein anderer: August Hermann Francke und seine Mitstreiter waren auf der Suche nach Verbündeten. Sie haben Kontakte zu orthodoxen Christen in Osteuropa und dem östlichen Mittelmeerraum geknüpft und sie nach Halle eingeladen, um in einen wissenschaftlichen Austausch zu treten.“
Paulau forscht an der Theologischen Fakultät der MLU zur globalen Christentumsgeschichte mit dem Schwerpunkt Orthodoxie. Dass Halle für diesen Schwerpunkt der passende Ort ist, hat viel mit dem Engagement Franckes Ende des 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts zu tun: Als Begründer des halleschen Pietismus wollte der Pfarrer, Pädagoge, Theologe und Sprachgelehrte nicht nur sein unmittelbares Umfeld, sondern die ganze Welt zu einem besseren Ort machen. „Francke betrachtete die Mehrheit der orthodoxen Christen etwa in Russland, dem Osmanischen Reich und Äthiopien als bloße Namenschristen“, erklärt Paulau. „Was sie für ihn als Vertreter des lutherischen Protestantismus dennoch interessant machte, war ihre weitgehende Unabhängigkeit vom Einfluss der römisch-katholischen Kirche.“
Halle als Mittelpunkt der Orientalistik und Slavistik
Eine wichtige Inspiration für die halleschen Missionsbestrebungen war Heinrich Wilhelm Ludolf. Auf längeren Reisen nach Russland und in den Orient traf sich der Gelehrte und Diplomat mit bedeutenden Vertretern der russischen und griechischen orthodoxen Kirche. Letztlich war er es, der Franckes Aufmerksamkeit auf die orthodoxen Kirchen lenkte und ihm sogar konkrete Pläne zum Aufbau der Beziehungen mit ihnen unterbreitete. „Die besondere Faszination der Pietisten für den Orient rührt aus einer gewissen Ambivalenz“, erzählt Paulau. „Einerseits galt der Orient als Sehnsuchtsort mit potenziell antikatholischen Verbündeten, andererseits aber auch als Ort der Abschreckung, an dem Aberglaube und Rückständigkeit herrschten.“
Inspiriert durch Ludolf gründete Francke 1702 das Collegium Orientale Theologicum, eine für diese Zeit einzigartige Arbeits- und Ausbildungsstätte. Ziel des Collegiums war es unter anderem, durch enge persönliche Verbindungen auf die orthodoxen Kirchen einwirken zu können. „Als wichtiges Instrument dieser Einflussnahme diente die Übersetzung der Bibel in die jeweiligen Volkssprachen“, erklärt Paulau. „Aber auch andere Werke, in denen das philologische, kulturelle und theologische Wissen zu den christlichen Kulturen Osteuropas und des Vorderen Orients gesammelt wurde, sollten in gedruckter Form verbreitet werden.“ Zu diesem Zweck richtete Francke eine Druckerei in seinen Stiftungen ein, die nach und nach mit griechischen, äthiopischen, hebräischen, syrischen und russischen Lettern ausgestattet wurde. Halle wurde damit nicht nur ein Mittelpunkt der Orientalistik, sondern auch der Slavistik. Paulau: „Halle war auch die erste europäische Universität, an der Russisch unterrichtet wurde. Und der Lehrer war kein Geringerer als Heinrich Wilhelm Ludolf.“
Christen aus Russland und dem Orient zu Gast in Halle
Das beeindruckendste Merkmal des Collegiums aber war das Wirken der orthodoxen Theologen, was die Einrichtung – wenn auch nur für kurze Zeit – zu einem transkonfessionellen Laboratorium machte. In den ersten Jahren des 18. Jahrhunderts weilten acht Theologiestudenten aus dem Osmanischen Reich und über ein Dutzend aus Russland in Halle. „Selbst heute wäre eine solche Anzahl von ausländischen Studierenden an einer deutschen theologischen Fakultät keineswegs selbstverständlich“, sagt Paulau. Eine besondere Bedeutung kam der Tischgesellschaft im Rahmen des Collegiums zu: Gespräche bei Tisch boten Studenten und Dozenten Gelegenheit, Wissen und Gedanken in ungezwungener Atmosphäre austauschen. Zugleich wurden diese Zusammenkünfte genutzt, um fremde Sprachen zu lernen. Für das Sprachstudium wurden sogar Tandems aus Muttersprachlern und Lernenden gebildet.
Einige der in Halle ausgebildeten Theologen kamen insbesondere in Russland an entscheidende Positionen und Ämter innerhalb der orthodoxen Kirche. Simeon Todorskij beispielsweise hatte sich in Halle neben der Theologie vor allem orientalischen Sprachen – Hebräisch, Griechisch, Arabisch und Syrisch – gewidmet. 1738 kehrte er in seine Heimat zurück und schuf an der Kiewer Akademie die Grundlagen der orientalischen Sprachwissenschaft sowie des textkritischen Umgangs mit der Bibel.
Deutlich überschaubarer blieb der Einfluss des halleschen Pietismus auf den Orient. Die Übersetzung der Bibel ins Griechische – mit dem Ziel, das Osmanische Reich zu reformieren – zeigte kaum Wirkung. Und auch die orthodoxen Gäste blieben nicht lange: Einer ihrer prominentesten Vertreter war der aus Damaskus stammende Salomon Negri, der im Collegium nicht nur studierte, sondern auch als Arabischlehrer tätig war. Seine Expertise in der syrischen, persischen und türkischen Sprache war sehr geschätzt. „Gut ein Jahr nach seiner Ankunft in Halle zog es Negri nach Oxford – angeblich, weil das Wetter hier so schlecht gewesen sei“, erzählt Paulau. „Welche Gründe tatsächlich ausschlaggebend waren, ist leider nicht überliefert.“
Viele Quellen noch nicht erschlossen
Auch wenn das Collegium die von Francke erhoffte Wirkung nicht entfalten konnte, war es doch eine für die damalige Zeit herausragende Begegnungsstätte der Konfessionen, ein „Mikroraum des Globalen“, wie Stanislau Paulau es formuliert. Zudem sind zahlreiche Aspekte dieser transkulturellen Wissensproduktion noch nicht erforscht, insbesondere die Rolle ostkirchlicher Gelehrter wie Todorskij oder äthiopischer orthodoxer Theologen. „Um diese Forschungsfragen bearbeiten zu können, müssen Quellen erschlossen werden, die in einer Vielzahl orientalischer und osteuropäischer Sprachen vorliegen“, erklärt Paulau. „Allein Heinrich Wilhelm Ludolf, der Russland- und Orientreisende, hat seine Korrespondenz in einem Dutzend Sprachen verfasst.“
Viele dieser Quellen, die sich zum Teil im Archiv der Franckeschen Stiftungen befinden, blieben bis heute entweder unerschlossen oder aber weitgehend ausgeblendet. Stanislau Paulau will in den kommenden Jahren verstärkt russisch- und äthiopischsprachige Werke und Korrespondenzen auswerten, die nicht nur in Halle, sondern auch in ausländischen Archiven lagern. Weil das allein nicht zu schaffen ist, setzt der Theologe auf die Unterstützung von Kolleginnen und Kollegen: Der Workshop „Hallescher Pietismus und Orient: Dynamiken globaler religiöser Interaktionen im 18. Jahrhundert“, zu dem im Herbst 2023 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus ganz Deutschland in die Franckeschen Stiftungen kamen, war der Startschuss für eine kollaborative Forschung zu diesem Thema.
Ein umfangreicher Bericht zum Workshop im Herbst 2023 ist auf der Plattform H-Soz-Kult zu finden.