Populär, aber unsinnig
Schulnoten sind populär. Sie sind bei Lehrern, Schülern und Eltern gleichermaßen beliebt, Untersuchungen zeigen regelmäßig hohe Zustimmungswerte. Noten gelten als effizientes, präzises und motivierendes Instrument der Leistungsbewertung. Viele Menschen sind davon überzeugt, dass unser Schulsystem ohne Noten nicht oder nur schlecht funktionieren würde.
Für die Bewertung schulischer Leistungen durch Noten scheint es also starke Argumente zu geben. Bei näherer Betrachtung aus pädagogischer Perspektive sprechen allerdings nicht viele Gründe für diese Praxis. Nehmen wir die vermeintliche Vergleichbarkeit: Studien belegen klar, dass die Notenvergabe in der Schule eher ungerecht ist. Da sind einerseits die systematischen Beobachtungsverzerrungen und Beurteilungsfehler, die sich auch bei bestem Wissen und Gewissen nicht vermeiden lassen. Zu den Erwartungseffekten, die einen Einfluss auf die Notengebung haben, gehört unter anderem der familiäre Hintergrund. Kinder aus Akademikerfamilien werden durchschnittlich besser benotet, auch wenn standardisierte Tests diesen Leistungsvorsprung nicht bestätigen.
Damit verstetigen wir einen Prozess, den die Bildungs- und Entwicklungsorganisation OECD regelmäßig kritisiert: Deutschland hat eine mangelnde Bildungsgerechtigkeit, die Förderung weniger privilegierter sozialer Schichten ist im europäischen Vergleich absolut unzureichend. Insofern passt das Benotungssystem gut zu dem ausgeprägten Sortiersystem, das sich in Deutschland etabliert hat und das es in anderen europäischen Ländern, vor allem den nördlicheren, so nicht gibt. Bereits nach der vierten Klasse gibt es die Schullaufbahnempfehlung auf der Basis von Noten. Kinder müssen Klassenstufen wiederholen, weil sie in zwei Fächern schlechte Leistungen zeigen – ungeachtet ihrer Qualitäten in anderen Disziplinen. Das alles führt zu einer Durchlässigkeit von oben nach unten, nicht aber in die entgegengesetzte Richtung.
Ungerecht ist auch, dass Noten eben nicht – wie vielfach behauptet – dazu geeignet sind, Leistungen über Klassen- und Schulgrenzen hinweg vergleichbar zu bewerten. Innerhalb einer Klasse funktionieren sie einigermaßen, darüber hinaus nicht. Das liegt daran, dass Lehrkräfte nach einer sogenannten Normalverteilung benoten. Wenige Schülerinnen und Schüler bekommen sehr gute oder sehr schlechte Noten, der große Rest liegt irgendwo dazwischen. Das passiert unabhängig davon, ob es Leistungsunterschiede zwischen den Klassen gibt. Plakativ ausgedrückt: Würde eine Klasse sich nur aus überdurchschnittlich guten und eine andere nur aus überdurchschnittlich schlechten Schülern zusammensetzen, würden wir dennoch dieselbe Notenverteilung erleben. Dass das nicht gerecht sein kann, dürfte jedem einleuchten. Abhilfe könnte hier nur eine an sachlichen Bezugsnormen orientierte Bewertung schaffen und die ist eigentlich nur mit standardisierten Tests umsetzbar. Die Führerscheinprüfung ist ein gutes Beispiel für die sachliche Bezugsnorm, aber solche Tests gibt es für den alltäglichen Unterricht kaum.
Hinzu kommt, und auch das ist nicht gerecht, dass Noten zu einer einseitigen Etikettierung führen: Erfolge oder Misserfolge werden allein der Schülerin oder dem Schüler zugeschrieben. Die Lehrkräfte sind gewissermaßen aus dem Schneider, obwohl jeder weiß, dass es besseren und schlechteren Unterricht gibt und schulische Leistungen das Resultat von Teamwork sind, an dem Lehrer und Schüler gleichermaßen beteiligt sind. In der Arbeitswelt, in der es keine Noten gibt, käme niemand auf die Idee, mangelnde Erfolge allein den Mitarbeitern zuzuschreiben – hier würde man auch die Führungskräfte in die Pflicht nehmen und ihren Leitungsstil hinterfragen.
In diesem Zusammenhang wird häufig auf die motivierende Funktion von Noten verwiesen. Es wird unterstellt, die Schülerinnen und Schüler strengten sich besonders an, um eine gute Note und letztlich ein gutes Zeugnis zu bekommen. Dabei zeigt die Bildungsforschung, dass die extrinsische Belohnung oder Bestrafung mittels Noten problematisch ist. Zwar können gute Noten dazu anregen, Erfolge zu wiederholen und zu verstetigen, schlechte Noten wirken jedoch demotivierend und sind damit kontraproduktiv. Außerdem treten die Inhalte, auf die es eigentlich ankommt, in den Hintergrund. Statt Neugierde und Interesse am jeweiligen Gegenstand spielt nur noch die Note eine Rolle. Es wird einer modernen Wissensgesellschaft nicht gerecht, wenn Befriedigung und Erfolgserlebnisse auf die Belohnung reduziert werden und sich nicht darauf richten, ein Thema wirklich zu verstehen.
Es gibt keine wissenschaftlichen Belege dafür, dass Noten in der Schule gebraucht werden – noch nicht einmal dafür, dass sie hilfreich sind. Schon der Blick auf das reformpädagogische Spektrum, wozu beispielsweise die Waldorf- und Montessorischulen zählen, zeigt, dass Schule auch ohne Noten funktionieren kann. Zudem machen etwa skandinavische Bildungssysteme vor, dass man zumindest bis zur achten Klasse gut ohne Noten auskommt. Könnten wir Noten also ersatzlos streichen? Sind die so genannten alternativen Formen der Leistungsbewertung wie Portfolioarbeit, Berichtszeugnisse oder Lernberatungen nicht viel zu aufwändig? Auch die genannten reformpädagogischen Alternativen zur Notengebung wären auf ihre Sinnhaftigkeit und Notwendigkeit zu prüfen. Für das Lernen der Schülerinnen und Schüler wäre es wahrscheinlich entscheidend, dass sie im laufenden Unterricht möglichst präzise und gegenstandsorientierte Rückmeldungen und Hinweise bekommen. Und Eltern wären vielleicht zufrieden, wenn sie regelmäßig Gespräche zu dem schulischen Tun ihrer Kinder angeboten bekämen.
Um sich von den Noten zu verabschieden, bräuchte es vor allem den Willen, auf das in Deutschland so immens ausgeprägte Sortieren von Schülerschaften auf verschiedene Schulformen zu verzichten. Der aber ist aktuell nicht erkennbar, obwohl Deutschland in internationalen Schulleistungsstudien wie PISA oder IGLU regelmäßig nicht gut abschneidet.
Der Text stammt aus der Print-Ausgabe des Wissenschaftsmagazins "scientia halensis" und steht in der Rubrik „Kontext“. Darin setzen sich Wissenschaftler der Martin- Luther-Universität mit einem aktuellen Thema aus ihrem Fach auseinander, erklären die Hintergründe und ordnen es in einen größeren Zusammenhang ein.
Prof. Dr. Georg Breidenstein ist seit 2008 Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Grundschulpädagogik an der MLU. Seine Forschungsarbeit konzentriert sich auf die Peer-Kultur von Kindern und Jugendlichen, die Schülerperspektive auf Unterricht, die Praxis der Leistungsbewertung, die reformpädagogische Praxis in der Grundschule und die elterliche Grundschulwahl. Breidenstein hat Sozialwissenschaften, Geschichte und Kunst in Bielefeld studiert, wurde an der Universität Potsdam promoviert und hat sich 2006 an der MLU habilitiert. Er ist Sprecher des DFG-Graduiertenkollegs 2731 „Fachlichkeit und Interaktionspraxis im Grundschulunterricht”. 2022 erhielt er den Forschungspreis der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE).
Prof. Dr. Georg Breidenstein
Institut für Schulpädagogik und Grundschuldidaktik
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