Sport mit Köpfchen – für helle Köpfe
Sportunterricht unkonventioneller Art stand für rund 300 hallesche Grundschüler auf dem Programm, als Sportwissenschaftlerin Nadja Walter den Anpfiff für ihre Dissertation gab: Statt des üblichen Lehrplaninhalts haben die Zweitklässler sich in einer Schulsportstunde pro Woche an Karate oder Ballsport versucht. „Hintergrund des insgesamt 16-monatigen Trainings war, die Wirksamkeit einer solch gezielten und angeleiteten sportlichen Intervention auf die Konzentrationsfähigkeit der Schüler zu untersuchen“, erklärt Nadja Walter die Zielsetzung ihrer im Januar 2009 begonnenen Arbeit.
Dafür hat sie aus den insgesamt 15 teilnehmenden Klassen und 300 Schülern drei Vergleichsgruppen gebildet: Während jeweils fünf Klassen eine Einweisung in schulsportgeeignetem Karate erhielten, erprobten weitere fünf die Grundlagen des Hand- und Volleyballs. In der dritten Gruppe, der Kontrollgruppe, wurde der Sportunterricht nach Lehrplan abgehalten.
„Eine Ballsportintervention kommt dem alterstypischen Bewegungsdrang der Schüler optimal entgegen und ist vor Ort ohne größeren Aufwand umzusetzen“, erläutert Walter, die an der MLU Sportwissenschaft mit den Schwerpunkten Prävention, Therapie und Rehabilitation studiert hat, ihre Wahl. „Die Karateausbildung kam insbesondere deshalb zum Einsatz, weil nicht nur die bewusst gelenkte Aufmerksamkeit und damit die Konzentration auf sich selbst und die Bewegungen charakteristisch für diese Sportart sind, sondern auch weil es sich um ein interessantes, verhältnismäßig neues und körperbewusstes Training handelt und in der Literatur generell den koordinativ orientierten Sportarten Vorrang vor der Ausdauerförderung gegeben wird.“
Zur Erfassung der Konzentrationsleistung der Schüler setzte die Sportwissenschaftlerin das sogenannte Frankfurter-Aufmerksamkeits-Inventar (FAIR) ein. „Das FAIR ist ein psychologischer Test, bei dem unter Zeitdruck eine per se unkritische Leistung zu erbringen ist“, führt sie aus. „Es geht darum, ähnliche Symbole schnell zu erkennen, sie sicher auseinanderzuhalten und Störendes von außen auszublenden.“ Die Schüler bekamen also zwei A4-Bögen mit einer Reihe von ähnlichen runden Zeichen vorgelegt, von denen sie bestimmte erkennen und markieren mussten – innerhalb von drei Minuten pro Blatt. Durchgeführt zu Beginn und am Ende des Untersuchungszeitraumes konnten so Rückschlüsse über die Entwicklung der Konzentrationsfähigkeit gezogen werden.
„Allerdings sind solche Tests immer nur Momentaufnahmen“, gibt die Sportwissenschaftlerin zu bedenken. So kam es, dass Kinder, die von ihren Lehrern als konzentrationsgestört oder unaufmerksam beschrieben wurden, teils hervorragende Ergebnisse erzielt haben. „Weil sie sich durch die Testsituation angespornt fühlten, diese Motivation aber nicht über den ganzen Schultag hinweg aufrecht erhalten werden kann“, erklärt Walter. Deshalb hat sie zusätzlich zum FAIR Verhaltenslisten für einen Teil der Schüler von den Lehrern ausfüllen lassen und in den Sportstunden selbst Beobachtungsbögen angefertigt.
„Im Ergebnis lässt sich festhalten: Die gezielte sportliche Intervention hat sich fördernd auf die Konzentrationsleistung der Schüler ausgewirkt, stärker als der reguläre Sportunterricht allein“, fasst Walter zusammen. So seien bei den Interventionsteilnehmern bis zu 40 Prozent höhere Zuwächse hinsichtlich der Konzentrationsleistung zu verzeichnen gewesen als bei der Kontrollgruppe. Karate und Ballsport hätten sich zudem als nahezu gleichermaßen wirksam erwiesen.
„Die Forderung nach der Wiedereinführung der dritten Pflichtsportstunde kann ich folglich in jedem Fall unterstützen. Zudem geben die Ergebnisse Anlass dafür, intensiv über die Öffnung des Lehrplanes und die Einbeziehung methodisch-didaktischer Aspekte in den Sportunterricht nachzudenken“, sagt die Sportwissenschaftlerin. In der Untersuchung sei ferner deutlich geworden, dass auch Schüler der Stufe zwei teils schon in der Lage sind, komplexe sportartspezifische Aufgaben auszuüben – sofern sie methodisch gut herangeführt und gezielt gefördert wurden. „Es wäre also auch zu überlegen – vor allem in Ganztagsschulen – mehr organisierten Sport im Rahmen von Arbeitsgemeinschaften anzubieten“, fügt Walter hinzu.
Denn Freude und Abwechslung hatte die sportliche Intervention dem Großteil der Kinder bereitet, so das Ergebnis der abschließenden Akzeptanzbefragung. „Wobei Karate mit dem Fokus auf Disziplin und Körperbeherrschung für Schüler der zweiten Klassen allerdings auch schnell anstrengend und monoton erscheinen kann“, ergänzt Walter. „Die Aussagen der Kinder zeigen aber, dass es durchaus sinnvoll wäre, positiv erlebte Elemente des Karatesports, wie die gemeinsamen Meditationen oder Auflockerungsübungen in den Sportunterricht zu übernehmen.“
Das Betätigungsfeld zwischen Sport, Konzentrationsleistung und Defizitstörungen birgt allerdings noch viele offene Fragen und spannende Themen. „Beispielsweise wie man Defizitstörungen besser diagnostizieren und vielleicht auch mittels Sport therapieren kann. Oder ganz praktisch, welche sportlichen Maßnahmen wie am Günstigsten in den Unterricht zu integrieren sind“, führt Walter aus, die derzeit als Präsidialreferentin im Landessportbund mit der Erarbeitung des künftigen Sportentwicklungskonzepts für den organisierten Sport in Sachsen-Anhalt – vom Jugend- und Breitensport über Bildung, Vereinsservice und Öffentlichkeitsarbeit bis zum Leistungssport – betraut ist. Umso mehr freut es die Sportwissenschaftlerin, die auch einen Lehrauftrag im Bereich Sportpsychologie, Sportpädagogik und Sportsoziologie der MLU hat, dass sie schon einige Studenten ermuntern konnte, eigene Projekte auf diesem Feld in Angriff zu nehmen.
Walter, Nadja: Konzentrations- und Aufmerksamkeitsförderung durch Sport in der Grundschule. Untersuchung zur Wirksamkeit einer gezielten sportlichen Intervention auf das Aufmerksamkeitsverhalten und die Konzentrationsleistung von Grundschulkindern, in: Schriften zur Schriften zur pädagogischen Psychologie. Band 51, Hamburg: Verlag Dr. Kovac, 2012, 266 Seiten, 85 Euro, ISBN 978-3-8300-6216-5